Tolle Geiger, Himmelfahrten und berückende Wüstenszenen: das Festival Stuttgart Barock hat Bachs Musik mit jener seiner Söhne konfrontiert.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wie redet man über Dinge, deren Eigenart darin besteht, an die Grenzen des Ausdrucks zu führen? Genau dies ist das Ziel der originalgenialischen Kunst Carl Philipp Emanuel Bachs, dessen Werke bei dem diesjährigen Festival Stuttgart Barock mit jenen seines Vaters konfrontiert wurden. Da man als Kritiker zum Ausdruck seiner Gedanken kein Clavichord, das Modeinstrument des 18. Jahrhunderts, zur Hilfe nehmen kann, bleibt nur der Umweg über das, was sich den Begriffen nicht entzieht. Dazu zählt beispielsweise das Erlebnis der erfrischend eigenwilligen Geigerpersönlichkeiten, die sich in der barocken Szene tummeln.

 

Einer von Ihnen, Anton Steck, trat nur als Konzertmeister des Barockorchesters der Trossinger Musikhochschule in Erscheinung. Er peitschte aber die jungen Musiker dieser Formation in Carl Philipp Emanuel Bachs oratorischer „Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“ in der Stiftskirche mit einer ostentativen Leidenschaft voran, dass diese Aufführung eigentlich zwei Dirigenten hatte: den eigentlichen in Gestalt des in Stuttgart als ehemaliger Leiter des Staatsopernchors in bester Erinnerung stehenden Michael Alber – und eben Steck.

Dessen Mienenspiel und auf feinste Details reagierende Körpersprache untertitelte gleichsam die Klangrede des Stücks. Ein Blick auf ihn genügte, um den musikalischen Sinn auch jener Passagen wiederherzustellen, in denen es bei dem überwiegend mit Studenten besetzten Himmelfahrtskommando im besten Sinn hin und wieder zu kleinen Tumulten und Blechschäden kam – Bagatellen, angesichts der großartigen Schlussarchitektur, deren chorisches Fundament dann wiederum Michael Alber souverän aufstufte. Er geleitete den Trossinger Kammerchor durch Tempo und Taktwechsel sicher in jene höchsten Sphären, aus denen ein an Händel geschultes Gepränge huldvoll in die bürgerliche Gefühlskultur hinunter lächelt.

Carl Philipp Emanuel Bachs experimentelle Neugier

Der Weg dorthin ist allerdings weit und führt durch viel rezitativisches Ödland, das die Solisten, Jan van Elsacker und Detlef Roth, nicht immer fruchtbar zu machen vermochten. Doch allein für das Duett „Vater deiner schwachen Kinder“ hat er sich gelohnt, zumal der lautere Sopran Alice Fuders jenen Ton ziemlich genau trifft, in dem hier die großen theologischen Verhältnisse auf das Format quasifamiliärer Empfindungsinnigkeit herab gestimmt werden.

Die größten Dinge können sich im Kleinen ereignen. Carl Philipp Emanuel Bach etwa hat seine experimentelle Neugier radikaler auf den Tasten des Cembalos ausgelebt, als in den üppig besetzten Oratorien, die während des Festivals zur Aufführung kamen. Wäre die Seele eine Mechanik, klänge sie vermutlich wie ein Cembalo. Diesen Eindruck zumindest vermittelt Martin Behringer an diesem Instrument mit Bachs a-Moll-Sonate: ein tolles Gestöber wuseliger Leidenschaften, auf Risiko gespielt und gewonnen.

Daniel Sepec beglückt mit der Chaconne

Zaubern auf kleinstem Raum könnte der Titel des Duo-Abends sein, den Behringer mit dem Geiger Daniel Sepec der Kammermusik von Vater und Sohn gewidmet haben. Die auf absolute Gleichberechtigung angelegten Violine-Cembalo-Sonaten von Johann Sebastian, sind spieltechnisch überschaubar, stellen aber die Interpreten im fliegenden Wechsel der Begleit- und Hauptstimmen gestalterisch vor heikle Aufgaben. Schlüssig entwickeln die beiden den verkappten Triosatz und enthüllen damit die introvertierte Schönheit der Sonate in c-Moll und die kapriziöse jener in E-Dur. So hört man das selten.

Das wohl gewaltigste Werk nicht nur dieser barocken Tage ist Bachs zweite Partita in d-Moll für Violine solo, namentlich deren abschließende Chaconne. Bei Sepec gleiten die Gestalten dieser musikalisch-kosmischen Stammzellenkunst fließend ineinander über, alles folgt einem organischen, zwanglosen Gesetz. Fragen der Technik, des Handwerks, der Intonation stellen sich auf diesem Niveau nicht mehr, eher solche der Offenbarung.

Joanne Lunn ist eine glühende Ekstatikerin des Ausdrucks

Eine ganz andere Form der Beherrschung charakterisiert den Zugriff des Dirigenten Frieder Bernius, der mit seinem edlen Präzisions-Kammerchor und dem Stuttgarter Barockorchester das Abschlusskonzert bestreitet. Bernius setzt auf eine Ästhetik der Bändigung und Kontrolle. Auch damit lässt sich gegen die Schwerkraft operieren, wie der aufs feinste austarierte Eingangschor von Bach-Vaters Himmelfahrtsoratorium zeigt: ein ätherisches Vollkommenheitsexempel, aber auch gleichzeitig entrückt wie hinter Glas, was die gefriergetrocknete Akustik des Hegel-Saals noch unterstreicht.

Den geschützten ästhetischen Modus durchbrechen die Solisten – Intensitätsartisten allesamt. Hier wie in Bach-Sohns Oratorium „Die Israeliten in der Wüste“ erweist sich die Sopranistin Joanne Lunn als glühende Ekstatikerin des Ausdrucks. Ihr Duett mit Judith Gauthier ist eine berührende Klage der Gottverlassenheit. Als Moses muss man seiner Sache schon so sicher ein wie der Bassist Tobias Berndt, um sich nicht berücken zu lassen. Rezitative könnten auch in der israelischen Wüste Durststrecken sein. Die Genauigkeit aber, in der Bernius in den Accompagnati auf die Gemütsbewegungungen der Figuren reagiert – die zu loben bräuchte man Ende doch ein Clavichord.