Hans Hertel hat zweieinhalb Jahrzehnte lang die Stuttgarter Feuerwehr geleitet. Vor einer Woche wurde er 80.

Stuttgart-Birkach - Die flach nach vorne gestreckten Hände sind die Flügel, der Oberkörper ist der Rumpf. Genau so, sagt Hans Hertel, ist damals die dreistrahlige Maschine gelandet. Seine rechte Handfläche senkt sich weiter, bis sie fast die Stuhllehne berührt. Er verdreht den Oberkörper. So ist sie geschlittert, als das Metall des Flügels über den mit Schaum bespritzten Asphalt kratzte. „Da war eine unglaubliche Spannung“, sagt er. „Der Vogel rutschte, kam zum Stillstand, und alles war still. Das war so gespenstisch.“ Über das fliegerische Glanzstück, das der Pilot im Oktober 1968 ablieferte, freut sich Hertel noch heute. Er ballt die Faust, als hätte seine Lieblingsmannschaft ein Tor geschossen, und lacht. „Die besten Einsätze sind die, bei denen nichts passiert.“

 

Hertel war nicht nur als Helfer vor Ort, als in dem Flugzeug aus Berlin das rechte Fahrwerk klemmte. Er leitete sogar den Einsatz. Ihn als seine Feuertaufe zu bezeichnen, wäre dennoch falsch. Denn erstens hat – glücklicherweise – nichts gebrannt. Und zweitens haben Flammen ein Jahr zuvor in der Stuttgarter Zuckerfabrik in Münster gelodert. „Die beiden größten Brände waren zu Beginn und zum Ende meiner Karriere“, sagt Hertel. 1992 verwandelte ein Feuer das Firnhaber-Möbelhaus in der Innenstadt in nur einer Stunde in ein Betonskelett. Im selben Jahr ging er in den Ruhestand.

„Das Telefon war immer an meinem Bett, aber es hat nicht mehr geklingelt“, sagt er. Eine Beschäftigung musste her. „Man fühlt sich doch ein bisschen besser, wenn man nicht nur Däumchen dreht.“ Er übernahm die Leitung der Birkacher Begegnungsstätte, organisierte Vorträge und Ausflüge. Als er vor fünf Jahren aufhörte, war auch für die Begegnungsstätte Schluss.

Seine Karriere verlief steil

Hertel sitzt auf dem Balkon seines Birkacher Hauses und kramt in seinen Erinnerungen. Vor einer Woche hat er seinen 80. Geburtstag gefeiert. Er hat deshalb noch einmal die Zeitungsartikel, Papiere und Fotos angeschaut, um die wichtigsten Daten im Kopf zu haben. Einen Notizzettel braucht er nicht. Er erzählt eine Anekdote nach der anderen, verzweigt sich in den kleinsten Details, verliert nie den Gesprächsfaden – und beantwortet Fragen mitunter erst nach fünf Minuten, ohne dass er daran erinnert werden müsste.

Einen Stock höher hat er in einem kleinen Zimmer sein Leben als oberster Brandschützer gesammelt. Wahllos greift er eines der vielen Fotoalben und beginnt zu blättern. Hertel zu Beratungen in Göteborg, Volvo wollte eine Dependance in Stuttgart bauen. Hertel vor einem Flugzeug, eingeflogen zu Besoldungsverhandlungen. Hertel in Dakar, Entwicklungshilfe in Sachen Brandschutz. Hertel mit Sektglas, und immer wieder Hertel mit Leuten.

Geboren 1932 in Kitzingen bei Würzburg, zog es ihn immer in die Großstadt. Den Bauingenieur erwarb er sich an der Technischen Universität München. In Essen, Stuttgart, Hamburg, Detmold und Düsseldorf wurde er für den leitenden Dienst in der Feuerwehr ausgebildet. So viele Stationen zu durchlaufen, war vorgeschrieben. 1959 war er fertig und begann in Stuttgart. Seine Karriere verlief steil. Schon 1966 war er Herr über die Feuerwehr der Schwabenmetropole. Da war er erst 34 Jahre alt, und das Gesetz sah jemanden wie ihn eigentlich gar nicht vor. In die Besoldungsstufe, die ihm zustand, durfte er erst mit 35 rutschen.

Humor lindert den Schmerz

In schrecklichen Momenten, sagt er, half ihm sein Glaube. Und für die Opfer zu beten. Er hat verbrannte Kinder gesehen. Angehörige, die am Ufer nach längst Ertrunkenen Ausschau hielten. Und immer wieder Menschen, die alles verloren hatten und auf die rauchende Ruine ihres Hauses blickten. „Da stumpft man nicht ab“, sagt er. Die Pausen zwischen den Sätzen werden länger. Die Hände sind längst auf die Armlehnen gesunken und rühren sich nicht mehr. Das Lächeln, das sonst immer über Hertels Lippen huscht, ist verschwunden. Er will eigentlich nicht darüber reden.

Und wechselt schließlich das Thema auf die denkbar drastischste Art. „Lustige Begebenheiten gab es aber auch“, sagt er und legt den Schalter im Kopf um. Humor lindert den Schmerz.

Er sieht sich noch genau, wie er an einem Morgen irgendwann in den 70er Jahren in eine historische Feuerwehrkluft schlüpfte, mit einem Blumenstrauß in der Hand die ausfahrbare Leiter hinaufkletterte und schließlich durch das Balkonfenster linste. „Das war eine Gaudi“, sagt er. Der damals schon pensionierte Erste Bürgermeister Stuttgarts, Jürgen Hahn, feierte einen runden Geburtstag. Hertel kannte Hahn, er kannte auch die Ehefrau. Aber die Dame, die ihm im Morgenmantel das Fenster öffnete, die kannte er ganz und gar nicht, sagt er. „Die Kollegen hatten sich einfach im Balkon geirrt.“