Würdiger Abschluss für die Filmfestspiele in Cannes: „Das Leben von Adèle“ ist zu Recht als bester Film des Festivals prämiert worden.

Cannes - Donnerwetter! Steven Spielbergs Jury hat es wahr gemacht, sie hat dem stärksten (und mit 179 Minuten längsten) Film des Wettbewerbs die Goldene Palme nicht verweigert. Eine Vorführung in den Kinosälen des prüden Amerika – unvorstellbar, wie Spielberg weiß. In Frankreich könnte „Das Leben von Adèle“ gesellschaftspolitisch noch viel bewegen. Mit seinen ungeheuer intensiven Liebesszenen, herzzerreißend lesbisch-brünstig tränenvoll, hat Abdellatif Kechiches Intimdrama das Zeug, den Protest zu erschüttern, mit dem Teile der Öffentlichkeit der Homo-Ehe begegnen.

 

„So muss Film!“, möchte man rufen, lallend wie in der Media-Markt-Werbung. Ja, und so müssen Schauspielerinnen sein, so unfassbar natürlich wie diese Adèle Exarchopoulos und so knisternd vor Liebreiz wie Léa Seydoux als verführerische Freundin. Exarchopoulos, ein bisher bei uns unbekannter Name, erwies sich als größte Entdeckung des Festivals – die Palme für bestes Spiel, ihr hätte sie zugestanden. Dass die Trophäe an Bérénice Bejo ging, die in Asghar Farhadis Beziehungsdrama „The Past“ als Frau und Mutter zwischen zwei Männern nervlich gefordert wird, verrät, wie sehr auch die Jury mit Verlegenheitslösungen gefordert war. Im Grunde sind Regie und Drehbuch das Beste an Farhadis Film, auch der Große Jurypreis hätte ihm zufallen können. Weil jede Prämie nur einmal vergeben wird, schob die Jury den „Großen“ aber – mit Fug – den US-Brüdern Coen zu, für ihre zauberhafte dunkeldrollige Folksong-Reminiszenz „Inside Llewyn Davis“. Und Bruce Dern als störrischer alter Zausel (in Alexander Paynes atmosphärestarkem Schwarz-Weiß-Roadie „Nebraska“) bekam den Darstellerpreis – vor Michael Douglas, dessen sensibel tuntige Liberace-Interpretation ebenfalls „palmierenswert“ war, nicht bloß den Regisseur Steven Sonderborgh begeisternd.

Es gab große, erhebende Kinostunden

Einen anderen, kleineren Jurypreis nahm der Japaner Kore-Eda Hirokazu entgegen für seinen Film „Like Father, like Son“. Dessen Handlung sei rasch nachgetragen, weil daran erkennbar wird, wie bestimmte Motive oft in mehreren Filmen zugleich reüssieren. Den verstörten orientierungslosen Buben zwischen zwei Vätern kannte man bereits aus dem Film des Iraners Farhadi, hier bei Hirokazu begegnet man ihm wieder – der Kleine weiß nicht mehr, in welchem Bett, in welchem Elternhaus er schlafen soll. Die Handlungsträger: zwei unfreiwillig sich verbandelnde Familien, lustig anzusehen mit dem possierlichen Kobolzen der Kindlein, nur leider dramaturgisch konventionell. Die Entwicklung: vorhersehbar. Abgehandelt wird wieder mal das Thema Kindsvertauschung: Ein arrivierter Produktionsleiter muss erfahren, dass sein Söhnchen, einst in der Geburtsklinik vertauscht, zu retournieren sei an die rechtmäßigen Erzeuger – stirnrunzelnd quittiert er den Knaben, den er im Gegenzug erhält. Sein „eigener“ sechsjähriger Bub, war er nicht viel manierlicher als jener gleichaltrige kleine Rüpel? Zwangsläufig bleiben beide Familien lose in Kontakt. So trifft adrette Kultiviertheit auf ungehobelt herzensguten Wildwuchs, vor allem der Gegenpapa gibt ein leuchtendes Beispiel wirr-freudiger Güte – und siehe da,  schließlich springt er doch über, der menschliche Funke. Am Beispiel der Gegenfamilie lernt ein Mann, was es heißt, Vater zu sein. Rechtzeitig zum Happy End ist sein versteinertes Karrieristenherz erweicht. Da muss er heulen.

Die Rührseligkeit hat nicht lange Bestand, auch hinterher nicht bei der Festivaljury, die den Mexikaner Amat Escalante mit einem Regiepreis auszeichnet und, erheblich besser begründbar, den Chinesen Jia Zhangke mit dem Preis fürs beste Buch – auf dass wir eingedenk bleiben, wie grausam die wirkliche Welt ist, draußen außerhalb des Kinosaals.

Das Festival selbst, wie war es alles in allem? Trotz Dauerregen, Organisationspannen, Momenten, in denen uniformierte Ordner den Festivalgast bestärkten im sicheren Gefühl, Geschmeiß zu sein – trotz allem: es gab große, erhebende Kinostunden. Und sieht man im Rückblick aufs Ganze, dann war dieses 66. Filmfestival beinah schon fabelhaft, längst nicht so trist, wie manche Beobachter vorauseilend unkten. Worauf Cannes seit Jahren setzt, der Mix aus europäischem Autorenkino und Produktionen der US-Independents, hat sich auch diesmal bewährt. Nicht total, aber weitgehend.

Nicht alles Gezeigte ließ das Publikum jubilieren

Das Einzige, was am Auswahlkomitee ungut hängenbleibt: der übergroße Anteil französischer Filme, auch wenn sich darunter der Siegerfilm fand. Denn Regisseure wie Desplechin, Bruni-Tedeschi, Haroun, des Pallières ließ man ebenfalls zu – Arnaud des Pallières, man merke sich den Namen, nein, man vergesse ihn, hat Kleists „Michael Kohlhaas“ verstümmelt in einem polternden Drama voller Gäulewiehern und Fleischfliegensurren, mit einem schnittlauchhaarigen Kohlhaas, so nachlässig karotinrot geschminkt (armer Mads Mikkelsen!), dass über der Stirn ein Streif unbeschmierter Blässe schimmert.

Nicht alles Gezeigte ließ das Publikum jubilieren. Auch Altmeister lieben bisweilen Etüden, Proben, kleineres Nebenbeiwerk – bei Roman Polanski erwuchs aus der Probe, wortwörtlich, sogar die tragende Idee, eine erotisches Kammerspiel, worin das Spiel sich wieder mal in Ernst verkehrt. Da will ein Theaterregisseur Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ inszenieren, was ihm fehlt, ist die Venus – zuletzt drängt sich ihm eine gummikauende Schlampe auf, aber hallo, die lockt schnell das Hündische aus ihm heraus, halb vulgär, halb venusisch. Wie schon im „Gott des Gemetzels“ verarbeitet Polanski hier ein Bühnenstück, nicht ohne ironischen Selbstbezug. Emmanuelle Seigner, seine Ehefrau, spielt hinreißend herausfordernd die ordinäre Domina, dampfend vor Weiblichkeit, und Mathieu Amalric, der frappante Ähnlichkeit mit dem jungen Polanski aufweist, darf den Erniedrigten mimen.

Amüsant, ja, gewiss. Aber ein Goldpalmenkandidat war’s ebenso wenig wie Jim Jarmuschs düster-elegischer Vampirfilm „Only Lovers left alive“, worin Tom Hiddlesten und Tilda Swinton als untotes, zärtlich exzentrisches Liebespaar namens Adam und Eve ihrem Daseins-Ennui frönen. Erfüllt vom Weltwissen vieler Jahrtausende, nur noch von Blutkonserven lebend, zelebrieren sie, Smartphones in Händen, von sündteuren alten Gitarren und weltliterarischen Werken umzingelt, ihren antimodernen Überdruss. Nachtdunkle Ausfallstraßen, Hinterhöfe in Detroit, steile Treppengassen in Tanger – Jim Jarmusch setzt noch immer das beste Licht. Aber die besseren Einfälle hatte er früher. So ist der Film, bei aller Luzidität, selber ein bisschen blutleer – im Grunde ein Inside-Joke für die Freunde des Zombiegenres.