Eine zeitgemäße, humorvolle Neuauflage à la „Pretty Woman“, Cronenbergs Flop und Mastroiannis Erbe – was Cannes in der zweiten Festivalhälfte bietet, ist überraschend lustig und oft schön anzuschauen.

Der US- Regisseur Sean Baker konkurriert mit „Anora“ zum zweiten Mal um die Goldene Palme und ist seinem Stil und seinen Themen dabei im Kern treu geblieben. Immer wieder widmet er sich, in einer reizvollen Mischung aus schonungslosem Realismus und poppigem Look, Menschen am Rande der Gesellschaft, allen voran Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern.

 

Dieses Mal steht die titelgebende Stripperin, mitreißend gespielt von Mikey Madison, im Zentrum. Bei der Arbeit lernt sie den jungen Ivan (Mark Eydelshteyn) kennen, Sohn eines schwerreichen russischen Oligarchen, der sie bald auch jenseits des Clubs engagiert. Sie kann ihn gut leiden und das Geld gebrauchen, er ist schnell verschossen, und bei einem Party-Ausflug nach Las Vegas steht plötzlich die Idee einer Hochzeit im Raum. Beide erhoffen sich auf ganz eigene Weise eine neue Wendung für ihr Leben. Doch als Ivans aufgebrachte Eltern von der Sache Wind bekommen, haben sie plötzlich deren Handlanger an den Fersen.

Mikey Madison überzeugt in „Anora“

Dass Baker seine Geschichte nie in zu viel Brutalität und Elend kippen lässt, ist dabei ebenso überraschend wie die Tatsache, dass „Anora“ letztlich eine Art zeitgemäßes „Pretty Woman“-Update mit Screwball-Gangster-Touch ist. Gelacht werden darf jedenfalls reichlich, selbst wenn weder Plot noch Figuren allzu überraschend sind.

Mindestens Schmunzeln angesagt ist bei „Marcello Mio“ von Christophe Honoré, der sich auf die Spuren von Marcello Mastroianni begibt, dem Vater seiner guten Freundin und Hauptdarstellerin Chiara Mastroianni. Die spielt hier eine Version ihrer selbst, die eines Sommers zusehends davon überzeugt ist, sich in ihren legendären Papa zu verwandeln. Mit Kurzhaarperücke, Herrenanzug und Schnurrbart ist sie fortan als Marcello in Paris und Italien unterwegs – und irritiert damit nicht nur ihre Mutter Catherine Deneuve, sondern auch andere Wegbegleiter wie Exmann Benjamin Biolay, allesamt gespielt von den realen Personen selbst. Echte Wucht entwickelt „Marcello Mio“ kaum, und potentielle Fragen nach Genderidentität oder ähnlichem werden auch nicht wirklich ausgelotet. Aber wer Fan ist von selbstreferenziellen Filmen über die europäische Kinogeschichte des 20. Jahrhunderts und ein wenig Vorwissen über Mastroiannis Werk und Familiengeschichte hat, dürfte hingerissen sein vom Charme dieses kleinen Films. Und von Deneuve in Birkenstock oder beim Beach Volley.

David Cronenberg verarbeitet mit „The Shrouds“ die Trauer um seine Ehefrau

Ein paar Cannes-Altmeister dagegen enttäuschten mit ihren neuen Werken. David Cronenberg verarbeitet mit „The Shrouds“ die Trauer um seine Ehefrau in einer Geschichte über einen visionären Friedhofs-Unternehmer (Vincent Cassel), der seine verstorbene Gattin (Diane Kruger) nicht loslassen kann. Doch er stopft den Film voll mit zu vielen Themen und langweilt in erster Linie. Unterdessen widmet sich Paolo Sorrentino in seinem visuell adäquat umgesetzten „Parthenope“ einmal mehr der Schönheit. Statt profunden Erkenntnisse bleiben am Ende aber nur plumpe Plattitüden und viele hübsche Bilder vom alten Neapel und jungen Brüsten.