Ein Film kann mit allerlei Kniffen vom Altern seiner Figuren erzählen: Schminke, wechselnde Darsteller und Computertricks. Der Regisseur Richard Linklater aber hat über 12 Jahre hinweg immer wieder einzelne Szenen gedreht, um vom Erwachsenwerden seines Helden zu erzählen. Herausgekommen ist ein Meisterstück.

Stuttgart - Ein Junge liegt im Gras und schaut still und versonnen in den Himmel. Links sieht es wolkig dunkel aus, in der Mitte strahlt es Blau. Da ist also noch nichts festgelegt, da kann es noch in diese oder in jene Richtung gehen. Der Junge, über den die Lehrerin sagt, er träume zu viel, ist sechs Jahre alt, er heißt Mason, und dieser Film wird ihn und seinen Darsteller Ellar Coltrane nun begleiten, bis beide junge Männer sind.

 

Von 2002 bis 2013 hat Richard Linklater an „Boyhood“ gedreht, jeweils ein paar Tage im Jahr. Entstanden ist eine filmische Langzeitbeobachtung, wie es sie zwar schon im Dokumentarfilm, in TV-Serien oder auch in Linklaters eigener „Sunrise“-Trilogie im Kino gab, aber wohl noch nie zusammengefasst in einem einzigen Spielfilm. Die Charaktere, ihr Älterwerden, ihre Entwicklung werden nicht nur gespielt, sondern physisch beglaubigt durch ihre Darsteller. Dabei fließt der Regisseur fast über vor Empathie.

Optimistisch, aber nicht verlogen

Es wird eine große amerikanische Erzählung! Eine Adoleszenz- und Familiengeschichte, in der sich auch ein Porträt der USA spiegelt, das man so nicht mehr für möglich gehalten hat. Gelassen, offen, letztlich sogar optimistisch, ohne verlogen zu wirken. Denn „Boyhood“ lässt die Heile-Welt-Ideologie alter Hollywoodproduktionen nur noch als Kontrastfolie durchscheinen. Hier hat der Vater (Ethan Hawke) die Familie früh verlassen, und für die Mutter (Patricia Arquette) ist es ein ständiger Kampf, ihren Kindern Mason und dessen älterer Schwester Samantha (Lorelei Linklater) ein gutes Zuhause zu schaffen.

Das Aus- und Umziehen, etwa von der texanischen Provinz in die Großstadt Houston, wird zur prägenden Erfahrung. Kaum hat Mason neue Freunde gewonnen, muss er ihnen schon aus dem Wagen heraus zum Abschied winken.

George W. Bush füllt die Strafgeldkasse

Die Mutter ist warmherzig, stark und intelligent, und auch wenn sie ihren Kindern zunächst keine geografische Stabilität bieten kann, hält sie ihre Familie zusammen. Sie passt auf, kümmert sich, liest vor, bildet sich auch selber fort und wird später Dozentin.

Auch der Vater, der sich in Alaska herumgetrieben und gejobbt hat, sucht wieder den Kontakt, fährt mit seinem GTO-Muscle-Car vor, einem Männer- und Singleauto, nimmt seine Kinder zum Bowling mit und ins Diner, verflucht den Irakkrieger George W. Bush und wird wegen seiner Wortwahl von der schnippischen Samantha sofort zur Strafgeldkasse gebeten. Die große Historie bleibt in dieser intimen Geschichte zwar im Hintergrund, ist aber immer präsent.

Überhaupt ist Richard Linklater nicht auf dramatische Szenen aus, er beobachtet eher als zuzuspitzen. Seine Ausschnitte aus einem Familienalbum, so subtil verdichtet sie tatsächlich sind, wirken meist wie zufällig ausgewählt. Auch die Zeit wird hier nicht in Kapitel eingeteilt, sie fließt mal langsam dahin, verschluckt dann Monate oder Jahre, ruckt plötzlich wieder voran.

Ego-Shooter und Sinnsuche

Nur indirekt lässt sich dieser Film im größeren Zusammenhang chronologisch einordnen, etwa durch Pop-Songs und TV-Nachrichten, durch eine Harry-Potter-Premiere oder den Fortschritt der Kommunikation hin zu Facebook, Skype und Co. Selbst da wertet Linklater nicht, schildert sogar Ego-Shooter-Spielereien, die in anderen Filmen als Gefahrensignale fungieren, als selbstverständlichen Teil des Heranwachsens. Alltag eben. Faszinierender Alltag. Etwas pathetisch gesagt: In diesem Film kann man dem Leben bei der Arbeit zuschauen.

Wie die sonst so souveräne Mutter immer wieder ihrem Hang zu den falschen Männern nachgibt, wie der Alkohol in ihre Ehen hineinspielt und auch mal die Gewalt. Wie der Vater irgendwann die unstete Existenz hinter sich lässt, mit einem Familienauto, einer jungen Frau und einem Baby vorfährt. Wie Samantha, die ihren Bruder früher getriezt hat, schwesterlicher wird. Und vor allem natürlich, wie der introvertierte Mason mit all dem umgeht, wie er Sinn und Halt sucht. Dieser Film ist auch eine Hymne an die erstaunliche Stärke und Widerstandskraft von Kindern, die mit so vielem fertig werden müssen.

Bloß nicht tun, was alle tun

Mason wächst heran, kommt in den Stimmbruch, trägt plötzlich einen Ohrring, verliebt sich, wird von der ersten Trennung gebeutelt. Und als Zuschauer fragt man sich natürlich: Wie festgelegt war dieses Drehbuch, das ja weder die Zukunft der Historie noch die Entwicklung gerade der jungen Schauspieler voraussehen konnte? Wieviel etwa von Ellar Coltrane in Mason steckt, und wie viel umgekehrt von der Rolle in den Schauspieler zurückgeflossen ist, das sind Spekulationen von eigentümlichem Reiz. Im Film erhält Mason immer wieder Ratschläge, etwa von einem Lehrer, der das fotografische Talent des Jungen erkennt, aber mahnt, das reiche nicht aus, es gehöre auch Disziplin dazu.

Mason erhält von den Schwiegereltern seines Vaters auch die klassischen Requisiten für ein konservatives amerikanisches Leben, nämlich eine Bibel und ein Gewehr, aber er wird von diesen Geschenken nicht geprägt. Der junge Mann hat seinen eigenen Kopf, will nicht tun, was alle tun. Wenn er am Ende im eigenen Auto eine Westernlandschaft durchfährt, dann ist das für den Zuschauer eine beglückende Erfahrung. Und eine traurige: man weiß ja, dass man diesen jungen Mann, der einem in knapp drei Stunden ans Herz gewachsen ist, bald unbeobachtet in die Welt entlassen muss.

Boyhood. USA 2014. Regie: Richard Linklater. Mit Patricia Arquette, Ethan Hawke, Ellar Coltrane. 165 Minuten. Ab 6 Jahren.