Schon lange hatte der Regisseur Fatih Akin diesen Film über den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 geplant. Das fertige Werk empört nationalistische Türken und steht doch etwas verloren neben den aktuellen Nachrichten über die Gräueltaten des IS.

Stuttgart - Es klopft an der Türe der Familie Manoogian. Das ist nichts Besonderes, sollte man meinen, denn wie anders sollte sich ein Fremder oder ein Freund denen drinnen im Zuhause bemerkbar machen, um eine Nachricht zu überbringen, eine Ware anzubieten oder eine nachbarschaftliche Gefälligkeit zu erbitten. Aber das Klopfen in Fatih Akins „The Cut“ wird angstvoll aufgenommen.

 

Man merkt, dass die Familie des armenischen Schmieds Nazaret Manoogian sich im Städtchen Mardin im Südosten der Türkei im Jahr 1915 nicht sicher fühlt. Aber mit dem, was nun über sie hereinbricht, hätte sie nicht gerechnet. Türkische Soldaten überbringen den Gestellungsbefehl zu einem ominösen Arbeitskommando, vollziehbar sofort: der Vater Nazaret (Tahar Rahim) muss sofort mitkommen.

Das sieht nicht aus, als wolle der türkische Staat im Ersten Weltkrieg nur in Eile bessere Straßen bauen lassen. Das sieht aus, als ginge es um die Zerschlagung dieser Familien. Beim Arbeitseinsatz selbst werden die aus dem Zivilleben gerissenen Armenier denn auch wie verurteilte Sträflinge behandelt. Vorbeiziehende Flüchtlinge und marodierende Schurken führen den von Nachrichten Abgeschnittenen vor Augen, dass hinter ihnen, im alten Leben, Furchtbares geschehen muss.

Ein kleines Stück vom großen Grauen

Bald will man auch sie beseitigen. Die Arbeitssklaven werden weg von der Straße ins Gelände geführt, wo Sträflinge und Banditen sie abschlachten sollen. Es sind nicht viele Menschen, denen das hier im Film widerfährt, drei Dutzend vielleicht, aber Akin arbeitet nach dem System Pars pro Toto. Die überblickbare Scheußlichkeit, die er inszeniert, steht für das nicht mehr Überblickbare, für den Völkermord an den Armeniern, den die Türkei bis heute stur leugnet, dem aber eineinhalb Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein dürften.

Dass er mit „The Cut“ seinen kontroversesten Film abliefern würde, war Akin, dem 1973 in Hamburg geborenen Sohn türkischer Einwanderer, stets klar. Vielleicht hat er sogar mit den Morddrohungen gerechnet, die er nun erhalten hat, denn der geleugnete Genozid ist ein Reizthema in der Türkei. Womit Akin aber nicht gerechnet haben kann, das ist die drängende Aktualität seines Themas – nun, wo Kurden, Jesiden, Schiiten und alle, die ihr Kalifat nicht anerkennen, von der IS für vogelfrei erklärt werden und die Welt kläglich reagiert.

Für die neue Erwartungshaltung kann Akin nichts, er hatte keine Chance, ihr zu begegnen. Er wollte in Zusammenarbeit mit dem armenischstämmigen Drehbuchautor Mardik Martin, der einst mit Martin Scorsese an „Mean Streets“ und „Raging Bull“ gearbeitet hat, ein Denkmal für das Leid der Armenier schaffen und sich dafür auf die Geschichte eines Mannes konzentrieren, eben Nazaret Manoogian.

Vom aktuellen Geschehen eingeholt

Zur Enttäuschung, die „The Cut“ schon bei seiner Premiere auf dem Festival von Venedig entgegenschlug, trägt also bei, dass man sich aktuell ganz konkrete andere Bilder und Erzählstränge erhofft. Etwa die Ausweitung des Blicks auf die politische Bühne, die Untersuchung des Umgangs mit den Nachrichten vom Genozid damals.

Akin und Martin aber gehen einen anderen Weg, wählen eine extrem private Perspektive. Sie kriechen mit einem kleinen Mann auf Irrwegen in karge Unterschlupfe. Nazaret überlebt das Massaker, sein designierter Mörder trennt ihm die Gurgel nicht ganz durch, er verpasst ihm nur jenen Schnitt, der dem Film den Titel gibt und der Hauptfigur die Sprache raubt.

Der stumm Gewordene macht sich auf die Suche nach seiner Frau und seinen Töchtern, und es verschlägt ihn bis in die USA. Wieder will Akin am kleinen Beispiel das Große zeigen, die Diaspora der Armenier. Er nutzt dabei nicht die Stilmittel von heute, jagt seine Figur nicht durch überscharfe und zugleich wacklige Bilder einer Digitalakamera, bringt keinen semidokumentarischen Elendsrealismus auf die Leinwand. Kameramann Rainer Klausmann malt in Cinemascope Panoramen im Stil einer anderen Zeit. David Lean, Otto Preminger oder Henry King wären den Stoff vielleicht so angegangen.

Befremdlich in schwachen Details

Auch ohne jeden Gedanken an Kobane wirkt „The Cut“ manchmal zu museal, zu gestellt. Wenn der stumme Trotz des Helden gegen die Behandlung durch den Türken den schematisch-heroischen Moment zu lange gezeigt wird; wenn eine Frau aus dem Füchtlingszug niederbricht, die Komparsin sich aber dann ganz schnell wieder aufrichtet, als sie Nazarets Hand am Arm hat; als sie ein wenig zu gelassen weitergeht, als die Kamera sie nicht mehr braucht, weil herausgestellt ist, was herausgestellt werden sollte, Mut und Mitgefühl von Nazaret nämlich: in vielen solchen Details entfremdet der Film uns, geriert er sich als zu naives Lehrstück.

Fatih Akin war über viele Jahre so mit diesem Projekts beschäftigt, dass er die Bilder nicht mehr kritisch abgleichen konnte. Er hat nur noch die Verwirklichung eines Traums gesehen. Er hat etwas gewagt und verloren. Das ist schade, und zum Spott gibt es keinen Anlass.

The Cut. Deutschland, Frankreich, Polen 2014. Regie: Fatih Akin. Mit Tahar Rahim, Simon Abkarian, Hindi Zahra. 139 Minuten. Ab 12 Jahren.