Ehrenamtliche Helfer aus den Flüchtlingsfreundeskreisen fordern vom Gemeinderat mehr Personal für die Betreuung von Flüchtlingen. CDU und Grüne werden wohl diesem Wunsch nicht nachkommen.
Stuttgarter Norden - Sozialarbeiter und deren Arbeitgeber schlagen Alarm. Der Personalschlüssel in der Flüchtlingsbetreuung muss verbessert werden, fordert die Liga der Wohlfahrtspflege, der unter anderem die Arbeiterwohlfahrt (Awo), die Evangelische Gesellschaft (eva), die Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt (AGDW), der Caritasverband sowie das Deutsche Rote Kreuz (DRK) angehören.
„Wir schaffen das so auf Dauer nicht“, sagt der Sprecher der Liga, Fritz Weller. Die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter sei auf lange Sicht nicht zu verantworten. Ein Sozialarbeiter betreue aktuell 136 Flüchtlinge. Doch die 39 Stunden in der Woche würden den Mitarbeitern bei weitem nicht mehr ausreichen, um allen Aufgaben gerecht zu werden. Unter anderem durch die hohe Fluktuation in den Unterkünften und die große Zahl von traumatisierten Flüchtlingen, die durchschnittlich neun Monate auf eine professionelle Therapie warten müssten, habe sich der Arbeitsaufwand enorm erhöht. Hinzu kämen die wichtige, aber zeitaufwendige Zusammenarbeit mit den Ehrenamtlichen und die Aufgabe, den Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Um all diese Herausforderungen zu meistern, müsse der Betreuungsschlüssel unbedingt auf 1 zu 100 erhöht werden, fordert die Liga der Wohlfahrtspflege.
Die Sozialverwaltung um Bürgermeisterin Isabel Fezer hat ebenfalls erkannt, dass Handlungsbedarf besteht und hat dem Gemeinderat vorgeschlagen, den Schlüssel auf 1 zu 120 anzupassen. Doch die CDU und die Grünen lehnen das ab. Mit 31 Stimmen bilden sie die Mehrheit im Gemeinderat.
Forderung: Der Schlüssel soll auf 1:120 verbessert werden
Auch ein Versuch Hunderter ehrenamtlicher Mitglieder der Flüchtlingsfreundeskreise, die Christdemokraten und die Grünen umzustimmen, blieb bislang erfolglos. Auf Initiative der Sprecher der Freundeskreise aus Zuffenhausen und Feuerbach wurde ein offener Brief an die Stadträte verfasst und eine Petition ins Leben gerufen, die mittlerweile schon knapp 1000 Unterstützer gefunden hat. „Ein verbesserter Betreuungsschlüssel ist ein Muss!“, heißt es in der Petition. Die Flüchtlinge hätten schon genug mitgemacht. „Sie brauchen professionelle Hilfe durch Fachpersonal! Wir zählen auf Sie!“ Ein positives Signal haben mittlerweile die Stadträte von SPD, SÖS-Linke-Plus, FDP, Freie Wähler und Stadtisten gesendet. Sie unterstützen den Vorschlag, den Betreuungsschlüssel auf 1 zu 120 zu erhöhen.
CDU und Grüne haben in den vergangenen Tagen immer wieder andere Gründe aufgeführt, warum sie diesem Antrag nicht zustimmen werden. Zunächst hieß es, dass es ohnehin nicht genug Sozialarbeiter auf dem Markt gebe. „Dieses Argument benutzen sie nicht mehr“, sagt Awo-Geschäftsführer Friedhelm Nöh. „Das ist nämlich auch nicht wahr.“ Im neuesten Antrag von CDU und Grünen heißt es nun: „Zudem ist es in Stuttgart schon immer gang und gäbe, dass neben der adäquaten Betreuung der Flüchtlinge durch Sozialarbeiter auch die Hausleitungen in den Unterkünften eine pädagogische Ausbildung haben. Dies bedeutet, dass in den Unterkünften insgesamt ein Mitarbeiter für 68 Bewohner verantwortlich ist.“ Das sei schöngerechnet, betont Nöh. In den Einrichtungen, in denen sich die Sozialarbeiter auch um den Zustand der Gebäude kümmern, müssten in diesem Arbeitsfeld natürlich auch anfallende, zeitintensive Dinge erledigt werden. Außerdem gebe es auch viele Unterkünfte, in denen die Mitarbeiter nur für die soziale Betreuung zuständig wären. „Da bleibt der Schlüssel dann bei 1 zu 136.“
Am Mittwoch haben sich CDU und Grüne dann doch noch etwas bewegt. Sie wollen zumindest für die Jahre 2016 und 2017 je 200 000 Euro für weitere Stellen zur Verfügung stellen. „Das ist ein Teilerfolg“, sagt Alexander Mak, einer der drei Sprecher des Freundeskreises Zazenhäuser Straße und Mitglied des Internationalen Ausschusses im Gemeinderat. „Ich habe gelesen, dass mit dem Geld sechs Stellen finanziert werden können“, sagt Nöh. „Das kann nur ein erster Schritt sein. Wir brauchen etwa 20 Stellen.“
Die endgültige Entscheidung über den Betreuungsschlüssel fällt an diesem Freitag im Rahmen der dritten Lesung der Haushaltsberatungen des Gemeinderats.
Kommentar
Den Ernst der Lage nicht erkannt
Flüchtlingsbetreuung - CDU und Grüne wollen dem Vorschlag der Sozialverwaltung nicht folgen, ausreichend Fachpersonal in den Unterkünften zu beschäftigen. Von Torsten Ströbele
Die Stadträte von CDU und Grünen wollen den Personalschlüssel in der Flüchtlingsbetreuung partout nicht verbessern. Obwohl Sozialverwaltung, die Liga der Wohlfahrtspflege und die ehrenamtlichen Helfer aus den Flüchtlingsfreundeskreisen seit Tagen und Wochen mit Engelszungen versuchen, die Christdemokraten und Grünen davon zu überzeugen, dass die Sozialarbeiter die enorme Arbeitsbelastung nicht mehr lange verkraften können. Statt in den Unterkünften für mehr Fachpersonal zu sorgen, sollen es etwa 50 Jugendliche richten, die ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvieren. Sie sollen helfen und die Sozialarbeiter entlasten. Doch wie soll das funktionieren? Die Jugendlichen können mit den Flüchtlingskindern Hausaufgaben machen oder den Bewohnern beim Einzug helfen. Aber die soziale Betreuung können und dürfen sie nicht übernehmen. Sie werden somit höchstens die Ehrenamtlichen vor Ort entlasten. Dafür müssen sich die Sozialarbeiter aber auch noch um die FSJler kümmern. Als hätten sie nicht schon genug zu tun. Wie lange die Sozialarbeiter das noch mitmachen, bleibt abzuwarten.