Der Flüchtlingsstrom nach Italien reißt nicht ab. Die Bergung der Toten vor Lampedusa setzt auch den professionellen Tauchern zu. Überlebende Kinder werden jetzt auf das Festland gebracht. Unser Italien-Korrespondent Paul Kreiner berichtet.

Rom - Ungeachtet der Tragödie vor Lampedusa reißen die Ströme der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer nicht ab. Am Montag erreichten zweihundert Syrer und Schwarzafrikaner die sizilianische Küste. Mitten im Meer in Seenot geraten, waren sie von einem französischen und einem afrikanischen Handelsschiff gerettet worden. Bereits am Samstag hatte ein Flugzeug der Küstenwache ein anderes Handelsschiff zur Rettung von 325 Syrern aufgefordert, die 190 Meilen vor Sizilien im Meer trieben. Fast gleichzeitig setzte ein bisher unbekanntes Frachtschiff 44 Afghanen, Syrer und Iraner vor einer kleinen kalabrischen Badebucht aus, nachdem sie ihren Aussagen zufolge auf der einwöchigen Fahrt vom türkischen Izmir aus unter gefängnisartigen Bedingungen an Bord zugebracht hatten.

 

Vor Lampedusa ging indes die Bergung der Toten weiter. Das Schiff, das mit mehr als 500 Eritreern und Somaliern an Bord am Donnerstagmorgen vor der Insel gesunken war, liegt in 46 Metern Tiefe. Die Taucher können dort unten nach Angaben der Behörden jeweils höchstens elf Minuten bleiben und müssen jede Leiche einzeln bergen, was die Arbeiten stark erschwert. Noch am Montagmittag, nach der Bergung weiterer 15 Opfer, hieß es, der Rumpf des Schiffes sei voll von Menschen. Die Flüchtlinge waren auf dem nur zwölf Meter langen Kutter offenbar so zusammen gepfercht worden, dass sie bei der Überfahrt von Libyen aus stehen mussten. Die professionellen Polizei-, Marine- und Feuerwehrtaucher zeigten sich vom Ausmaß der Tragödie schockiert und sprechen von „ganzen Menschenstapeln“ an Bord. Die Behörden rechnen mit mehr als 300 Toten.

Das Flüchtlingslager ist hoffnungslos überfüllt

Nach einem Appell der Kinderhilfsorganisation Save the Children haben die italienischen Behörden am Montagmorgen damit begonnen, die Minderjährigen aus dem Aufnahmezentrum der Insel Lampedusa wegzubringen. 26 der insgesamt 228 Minderjährigen sollten am Abend in betreuten Wohneinrichtungen auf dem sizilianischen Festland ankommen.

Das Lager in Lampedusa ist mit mehr als 950 Flüchtlingen – bei einer Aufnahmekapazität von nominell 350 Menschen – nicht nur hoffnungslos überbelegt; weil die italienische Regierung nach Abklingen des Arabischen Frühlings 2011 auch die Flüchtlings-Notlage für beendet hielt, waren die von einem Brand teilweise zerstörten Baracken nicht wieder aufgebaut worden. Viele der Neuankömmlinge müssen bei schlechtem Wetter unter freiem Himmel übernachten. Helfer beschreiben die hygienischen Zustände als desaströs.

Gegen die Überlebenden wird ermittelt – so will es das Gesetz

Währenddessen sind die Staatsanwälte im sizilianischen Agrigent damit beschäftigt, Ermittlungsverfahren gegen jeden einzelnen der 155 Überlebenden einzuleiten. Das Gesetz zwinge sie dazu, sagen sie. Illegale Einwanderung ist in Italien als Straftat mit bis zu 5000 Euro bewehrt. Schleuser müssen 15 000 für jede ins Land gebrachte Person bezahlen – das aber bleibt nach Berichten italienischer Zeitungen bloße Theorie, weil die Organisatoren des massenhaften Menschenschmuggels ungreifbar in Libyen sitzen und die einzelnen, womöglich als solche ausfindig gemachten Steuermänner auf den Flüchtlingsbooten nur deren kleine Angestellte sind. Ein Tunesier, der jetzt auf Lampedusa verhaftet wurde, war bereits zum zweiten Mal in dieser Funktion unterwegs. Schon im April war er identifiziert und ausgewiesen worden.

Der Präsident des Roten Kreuzes fordert einheitliche EU-Regeln

Vor dem Gipfel der EU-Innenminister an diesem Dienstag hat der Präsident des Italienischen Roten Kreuzes die Europäische Union aufgefordert, Italien zumindest bei der Bewältigung der immer neuen Menschenwellen zu helfen. Francesco Rocca sagte, zwar nähmen auch Deutschland und Schweden viele Flüchtlinge auf, aber „bei denen ist das was anderes: Sie haben keine derart ausgesetzten Grenzen. Bei denen kommt niemand auf so brüchigen Verkehrsmitteln unmittelbar und in so großer Zahl ins Land.“ Francesco Rocca schlug vor, die EU solle „humanitäre Korridore“ und ein einheitlich geregeltes Aufnahmesystem einrichten: „Dann muss keiner mehr mit solchen Booten übers Meer kommen.“