In dem Nürtinger Stadtteil Roßdorf leben Menschen aus unterschiedlichsten Herkunftsländern zusammen. Sie wehren sich jetzt gegen den geplanten Bau eines Flüchtlingsheims in der direkten Nachbarschaft.

Nürtingen - Skaska – Märchen – heißt der russische Tante-Emma-Laden im Roßdorf. Märchenhaft ist für viele Bewohner die Geschichte ihres Stadtteils, den sie als einen Ort gelungener Integration sehen – auch wenn er im restlichen Nürtingen als „Ghetto“, „Russdorf“ oder „Betonwüste“ verschrien ist. Kann Roßdorf weitere Migranten verkraften? Ist es klug von der Stadtverwaltung, auf der Nanzwiese direkt vor dem russischen Laden Wohnungen zu bauen, in denen circa 60 Menschen untergebracht werden sollen – davon rund 35 Flüchtlinge und weitere 25 Menschen mit niedrigem Einkommen? Die Bürgervereinigung Roßdorf, die seit 30 Jahren für die Interessen des Stadtteils eintritt, läuft Sturm gegen den Plan. Und dass jetzt Flugblätter aus der rechten Ecke die Stimmung zusätzlich aufheizen, macht das Ganze nicht gerade einfacher.

 

Ein Mitglied des Bürgervereins, das sich dieses Märchen nicht kaputt machen lassen will, ist Reinmar Wipper. Er kennt das Roßdorf, seit seine Eltern 1972 aus der Stadt dorthin gezogen sind. Neben der Nanzwiese ragt ein 20 Etagen zählendes Gebäude in die Höhe. Im Liebermann, das höchste Wohnhaus Nürtingens und ein architektonisches Ausrufezeichen, leben 250 Menschen. Reinmar Wipper gehört dazu. „Es ärgert mich maßlos, dass wir nun einem Generalverdacht ausgesetzt sind“, sagt der 71-Jährige. Er wolle zwar das Asylbewerberheim verhindern, doch sei er kein Rechter: „Das Roßdorf schwimmt nicht in einer braunen Suppe. Wir sind regenbogenbunt.“

Am 8. November, einem Sonntag, geht Reinmar Wipper an seinen Briefkasten. Wie alle Roßdorfer hält er ein Flugblatt in der Hand. „Asylantenheim Roßdorf: Widerstand!“, beginnt es. „Bitte kommen Sie unbedingt zur Gemeinderatssitzung und verhindern Sie den Beschluss zum Bau des Asylantenheims.“ Dann wird es deutlicher: „Sollte das Asylantenheim gebaut werden, haben wir das Recht und die Pflicht, in dieser Notwehr mit allen Mitteln Widerstand zu leisten, bis das Asylantenheim wieder verschwunden ist.“

Flugblätter schüren die Fremdenangst

Tags darauf taucht ein zweites Flugblatt auf. „Es besteht die Gefahr, dass die Al-Kaida-Gruppe, die IS-Terrorgruppe und ihr verlängerter Arm, die Salafisten, hier Einfluss gewinnen. Anschläge auf die Stephanuskirche sind nicht auszuschließen“, ist darauf zu lesen. Der ebenfalls anonyme Verfasser gibt sich als ein „besorgter Mitbürger“ des Roßdorfs aus.

Vis-à-vis zum ökumenischen Stephanushaus steht die Roßdorfgrundschule. Im Keller treffen sich Mütter unterschiedlicher Nationalitäten im „Elterncafé“ zum Kennenlernen. Sie stammen aus Kasachstan, Moldawien und Kroatien, eine Frau wanderte aus Sachsen zu. Die Nanzwiese ist auch hier ein großes Thema, das Café ein Gradmesser für die angespannte Stimmung im ganzen Quartier, wo die Spekulationen derzeit nur so ins Kraut schießen. 60 muslimische Männer sollen in die geplante Unterkunft einziehen, erzählt man sich. Die Mütter haben Angst, dass sie künftig ihre Töchter nicht mehr auf die Straße lassen können. Das Kreuz an der Stephanuskirche werde verschwinden, wenn die Flüchtlinge kämen, lautet eine andere Sorge. „Die Menschen sind sehr aufgebracht. Es heißt, dass die Asylunterkunft sicher nicht lange steht, sollte sie denn gebaut werden‘“, sagt Rosa Kusin, die Anfang der 90er Jahre mit ihren Eltern aus Russland kam.

Auch in den anderen Stadtteilen herrscht beim Thema Flüchtlinge Aufregung. In Neckarhausen etwa, wo die Grundschule nun vorübergehend für die Unterbringung von 90 Flüchtlingen herhalten muss – und daraufhin sofort Forderungen nach einer Videoüberwachung im Rathaus eingegangen sind. Wie fast überall sucht man auch in Nürtingen für die Anschlussunterbringung krampfhaft nach Wohnraum. Asylbewerber, die ein Bleiberecht bekommen oder schon zwei Jahre in der vorläufigen Unterkunft des Landkreises hinter sich haben, müssen diese räumen. Wer dann keine neue Bleibe findet, schlägt als Obdachloser bei den Kommunen auf – das sind rund zwei Drittel aller Flüchtlinge. Jetzt rächt sich, dass seit Jahrzehnten der soziale Wohnungsbau darniederliegt. Auch in Nürtingen. Die Nanzwiese ist eine der wenigen städtischen Flächen mit Baurecht, so dass dort kurzfristig gebaut werden könnte.

Wohnen unter 380 000 Volt?

An feuchten Tagen brummt und knistert es laut. Auch in 150 Metern Entfernung hören die Roßdorfer das Geräusch der 380 000-Volt-Hochspannungsleitung, die den Stadtteil überzieht. Die Nanzwiese liegt direkt unter dieser Leitung. Zwar verbietet der Gesetzgeber inzwischen den Bau solcher Leitungen über Wohngebieten, um Menschen vor möglichen gesundheitsschädlichen Auswirkungen sogenannter niederfrequenter Felder zu schützen, unter bestehenden Anlagen kann jedoch gebaut werden. Ein solches Vorhaben ist dann zulässig, „wenn die einschlägigen Grenzwerte eingehalten werden“, wie ein Sprecher des Landesumweltministeriums erklärt. Dass die Nürtinger Stadtverwaltung nun die Armen unter eine „Stromautobahn“ setzen will, findet die Roßdorfer Bürgervereinigung „schlicht menschenverachtend“. Die 380 000-Volt-Leitung, die 1997 gegen Widerstände aus der Bevölkerung zur bereits bestehenden 110 000-Volt-Trasse hinzukam, ist nicht das einzige Argument gegen eine Bebauung.

Das Roßdorf galt einst als „Bundesmustersiedlung“. Von Wohnblöcken, Hochhaussolitären über Terrassenhäuser, Reihenhäuser bis zu teils exquisiten Einfamilienhäusern in Atriumbauweise reicht die Palette. Auf einer überschaubaren Fläche sind vergleichsweise viele Menschen untergebracht. Großzügige Freiräume gleichen diese hohe Dichte aber aus. Hoch und dafür licht, so lautete die städtebauliche Gleichung, als im Jahr 1967 die ersten Bewohner einzogen.

Der Satellit wurde gebraucht, weil nach Kriegsende die Stadt durch den Zuzug von Heimatvertriebenen – einer von ihnen war der spätere Schriftsteller Peter Härtling – aus allen Nähten platzte. Anfang der 90er Jahre kamen dann die Spätaussiedler. Ihre Kinder sprachen kaum oder gar kein Deutsch. Die russischstämmigen Neubürger hatten es nicht leicht, blieben meist unter sich, die Integration gestaltete sich schwierig. Ruhestörungen, Einbrüche, Beschädigungen, Diebstähle waren die Begleiterscheinungen. Banden aus anderen Ortschaften reisten ins Roßdorf, wo sich meistens Gangs ausländischer Jugendlicher und junger Spätaussiedlern gegenüberstanden. Der große Knall blieb aber aus – auch dank einer engagierten Jugendarbeit im Quartier. Die Polizei hat dort nicht mehr Arbeit als andernorts – auch wenn sich vor acht Jahren viele Außenstehende in ihrem Bild vom Ghetto bestätigt sahen: Ein Mann mit italienischen Wurzeln metzelte einen Taxifahrer mit 33 Messerstichen nieder. Das Opfer, ein Spätaussiedler, verblutete noch auf der Straße.

Daniel Didavi ist auch ein Roßdorfer

Die Spätaussiedler machen rund ein Viertel des Stadtteils aus. 40 Prozent des 4000 Einwohner zählenden Roßdorfs haben einen Migrationshintergrund: Albanien, Brasilien, Italien, Kamerun, Kasachstan, Kroatien, Moldawien, Nigeria, Österreich, Palästina, Polen, Portugal, Russland, Schweden, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Türkei, Syrien, Ukraine und Ungarn – all diese Nationalitäten sind vertreten. Der prominenteste Roßdorfer ist wohl Daniel Didavi, der als Bub bei der SPV 05 das Kicken gelernt hat. Der Mittelfeldspieler des VfB Stuttgart hat eine deutsche Mutter, sein Vater stammt aus Benin.

Zwar gibt es im Roßdorf bislang keine städtische Flüchtlingsunterkunft, doch auch dort leben vor Krieg und Gewalt geflüchtete Menschen – in Privatwohnungen. Um vier Familien aus Afghanistan, teils mit kleinen Kindern, kümmert sich Heidi Solte. Im Stephanushaus gibt die pensionierte Lehrerin den Flüchtlingen Deutschunterricht: „Alle sind unglaublich motiviert.“ Sie sei für die Familien „so etwas wie ein Großmutterersatz“, sagt sie. Von Rassismus im Alltag spürt sie nichts: „Ich habe das Gefühl, dass die Leute in der Nachbarschaft sehr offen mit den Flüchtlingen umgehen.“

„Wir sind keine Rechten“, betont auch Reinmar Wipper, der bis vor ein paar Wochen noch für die Nürtinger Liste/Grüne im Gemeinderat saß. Schon im Juni ermutigte er die Bewohner des Stadtteils, eine Sitzung des Bauausschusses zu besuchen, auf der die Nanzwiesenpläne abgenickt werden sollten. Rund 250 Roßdorfer kamen. Der Punkt verschwand aber von der Tagesordnung. Es gebe Anhaltspunkte, wonach Neonazis aus Esslingen und Linksautonome vor dem Rathaus aufeinandertreffen könnten, erklärte der Oberbürgermeister. Nichts passierte, die Beratung im Ausschuss fiel trotzdem flach, und die Roßdorfer zogen wieder ab.

Wipper legt genervt sein Gemeinderatsmandat nieder

Der CDU-Landtagsabgeordnete Thaddäus Kunzmann warf Wipper vor, mit der Art seines Vorgehens eine ganz braune Suppe angerührt zu haben. Wegen solcher Anfeindungen legte Wipper schließlich sein Gemeinderatsmandat nieder. „Die Angriffe sind aber nur ein Manöver, um von den Fakten abzulenken, die eine Bebauung der Nanzwiese verbieten“, sagt er.

Die Stadt hatte den Bürgern einen Informationsabend zugesagt. Das Versprechen löste sie eine Woche vor der geplanten Beschlussfassung im Gemeinderat ein. Am 11. November entschied dann das Gremium, die Planungen für die Nanzwiese weiterzuverfolgen, jedoch wegen der Hochspannungsleitung ein Gutachten in Auftrag zu geben. Gleichzeitig appelliert die Bürgervereinigung an Eigentümer, Wohnungen an Flüchtlinge zu vermieten. Das damit verbundene Signal: „Wir verweigern uns nicht, aber lasst von der Nanzwiese ab.“

Billy Colak, eine türkischstämmige Roßdorferin, schreibt via Facebook: „Ich lebe seit meiner Geburt hier und bin dermaßen wütend, dass wir alle nun in einen braunen Topf geworfen werden! Diese Menschen gehören dezentral untergebracht und nicht eingepfercht zwischen unzähligen Wohnblocks unter einer Starkstromleitung!“ Auch sie will sich ihr Märchen nicht kaputt machen lassen.