Askar Channanov hat vor 10 Jahren beim Flugzeugunglück von Überlingen seine zwölfjährige Schwester Alina verloren. Zehn Jahre danach trauert der Austauschschüler gemeinsam mit anderen Hinterbliebenen um die 71 Opfer.

Überlingen - Es gibt ihn, den Ort. Aber Askar will ihn uns nicht zeigen. Den Ort, wo seine tote Schwester gefunden worden ist. Er liegt im Wald von Taisersdorf, 13 Kilometer nordöstlich von Überlingen. Seine Familie hat den Baum markiert, damit sie ihn immer wiederfindet, wenn sie kommt, um ihre Alinotschka zu besuchen. Zweimal waren die Eltern schon hier. Vor acht und dann noch einmal vor fünf Jahren. Jetzt werden Rim und Alfia Channanov wiederkommen, die Stelle besuchen und das Mahnmal, das die Deutschen gebaut haben, damit man sich erinnern kann. Sie werden auf Askar, ihren Jüngsten, treffen, der seit April Austauschschüler in Überlingen am Bodensee ist.

 
Ausgerechnet hier in der Stadt, über der die Katastrophe geschah. Dem Ort, der mit dem Unglück seiner Familie so untrennbar verbunden ist. Zehn Jahre sind seither vergangen. Es war die Nacht des 1. Juli 2002, als es geschah. Es war eine warme, keine besonders helle Nacht, als um 23.35 Uhr und 32 Sekunden in einer Höhe von knapp 11 000 Metern eine baschkirische Passagiermaschine vom Typ Tupolew 154 und eine DHL-Frachtmaschine vom Typ Boeing 757 ineinanderkrachten. 71 Menschen starben. Niemand überlebte das Unglück, das eines der schlimmsten in der deutschen Luftfahrtsgeschichte war. 45 der Opfer waren Kinder. Hochbegabte Kinder aus der Oberschicht der russischen Teilrepublik, die jenseits des Urals liegt, wo es Öl und Reichtum gibt und wo sie mehrheitlich zu Allah beten. Die Kinder waren auf dem Weg nach Barcelona in die Sommerferien. Alina Channanov war eine von ihnen.

Der 17-jährige Askar lehnt an der vierten  von neun Kugeln der Gedenkstätte. Was sollte er machen? Er wollte Austauschschüler werden. Ob er jemanden in Deutschland kenne, wurde er gefragt. Askar kannte nur die Dahlingers. Katharina und ihren Mann Robert. Katharina, die gut Russisch kann, war nach der Katastrophe als Dolmetscherin unverzichtbar geworden. Durch den engen Kontakt entstand die Freundschaft zu den Channanovs. So kam es, dass Askar jetzt für drei Monate die zehnte Klasse des Gymnasiums Überlingen besucht. Später, sagt er, wolle er studieren, etwas Technisches. Ingenieur. In Ufa, der baschkirischen Hauptstadt, oder in Deutschland.

Eine übergroße zerrissene Perlenkette

Das Mahnmal, an dem er steht, hat die einheimische Künstlerin Andrea Zaumseil geschaffen. Hinter dem schlaksigen jungen Mann liegt ein abgetrenntes Stahlseil. Die Kugeln und das Seil sollen eine übergroße zerrissene Perlenkette darstellen, die verstreut über die Wiese an die Lebensfäden erinnern, die hoch oben über Überlingen zerrissen wurden. 71 Leben, die meisten jung und hoffnungsvoll, im Bruchteil einer Sekunde für immer zerstört.

„Memento mori“ heißt das Kunstwerk. Nach dem Gedicht Luthers: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.“ Es soll uns mahnen, dass der Tod uns auf jedem Schritt begleitet. Dass er keine Unterschiede macht zwischen arm und reich, schön und hässlich, jung und alt. Der Tod, der große Gleichmacher, kennt kein Erbarmen. Askars Schwester Alina war zwölf Jahre alt, als sie starb. „Ein ruhiges, kluges Kind“, schreiben die Eltern in ihren Erinnerungen an die Tochter. Sie habe ihnen „keine Sorgen“ gebracht. Brav und strebsam war Alina, aufmerksam und verantwortungsvoll und ernsthaft. Schon in der Grundschule hatte sie nur gute Noten. „Alinotschka“, so nannten sie ihre Eltern immer.

Englisch war ihr Lieblingsfach. In der Schule übernahm sie gerne die Hauptrolle in englischen Märchenspielen. Sie las viel, konnte in zwei Tagen ein ganzes Buch verschlingen. Die Eltern mahnten sie oft, mehr draußen zu sein, aber Alina war ein häusliches Mädchen. Sie konnte stundenlang mit Askar spielen, den sie sehr liebte. Mit Ruslan ging das nicht so gut. Der ältere Bruder war ihr zehn Jahre voraus.

Askar drückt sich von der Stahlkugel ab und sagt, er habe nur noch eine blasse Erinnerung an Alina. „Ich war ja noch so klein, erst sieben Jahre alt.“ In den ersten Jahren haben sie in der Familie viel über Alina gesprochen, eigentlich täglich. Jetzt ist sie nicht mehr oft Thema. Aber sie ist immer gegenwärtig. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Stimmt das? Gibt es das? Ist der Schmerz, den der Verlust des Kindes, der Schwester auslöst, nur ein Gefühl, das der Alltag – auch er ein Gleichmacher – langsam aus dem Bewusstsein drängt und in die Erinnerung verbannt, wo irgendwann nur noch ein blasses, verschwommenes Abbild des geliebten Menschen bleibt?

Oder hört der Schmerz nie auf? Bricht er immer wieder auf, treibt er seine scharfe Klinge in die Eingeweide bei jedem Bild, das einem in die Hände fällt? Bei jedem Besuch des vermaledeiten Ortes Brachenreuthe bei Überlingen, wo man gerade in diesen heißen Sommertagen einen schrecklich wundervollen Blick über die unschuldig satte, schöne Bodensee- und Voralpenlandschaft hat. Ein Tag, wie damals am 2. Juli, als Kinderleichen auf den Straßen lagen, in Bäumen hingen und im Rumpf der Tupolew klebten, die in der Apfelplantage unterhalb der Heimschule Brachenreuthe niedergegangen war.

Messingfiguren füllen die Lücken

Messingfiguren füllen die Lücken an der zerrissenen Stahlkugelkette der Überlinger Gedenkstätte. Doch niemand schließt die Lücke, die der Tod von Alina und all den anderen baschkirischen Kinder gerissen hat. Sie kann niemand ersetzen.

Keiner konnte dem nordossetischen Bauingenieur Vitali Kalojev die Familie wiedergeben. Jenem Unglücksmenschen, der am Katastrophenabend in Barcelona auf seine Familie wartet und wartet. Die Frau und seine Kinder sind in Moskau eher zufällig in die baschkirische Maschine eingestiegen, weil sie ihren Flug verpasst haben. Als das Flugzeug ausbleibt und Kalojev die Katastrophe realisiert, fliegt er nach Zürich, ist schließlich als erster Angehöriger am Absturzort. Er findet die Halskette von Diana, seiner vierjährigen Tochter, dann sieht er sie – scheinbar unverletzt – in einer Baumkrone. Die Äste haben den Körper aufgefangen. Sein zehnjähriger Sohn Konstantin liegt vor einer Bushaltestelle, seine Frau Svetlana in einem Kornfeld.

Er wird irre an dem Verlust, besessen von Trauer, Wut und Rachegedanken. Er will eine Entschuldigung der vermeintlich Schuldigen bei der Schweizer Flugüberwachung Skyguide, die entsetzliche Fehler gemacht hat an diesem Abend. Er isst, trinkt, schläft kaum noch. Er darf am ersten Jahrestag mit dem Skyguide-Chef Alain Rossier sprechen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Als er um eine Entschuldigung und ein Treffen mit dem diensthabenden Lotsen bittet, wird es ihm verweigert. Die Entschuldigung bekommt er nicht. Das juristische Risiko ist den Schweizern zu hoch, denn die Auseinandersetzungen mit den Angehörigen, den Fluggesellschaften und dem Hersteller des elektronischen Warnsystems um Schadenersatz haben schon begonnen.

Vitali Kalojev baut in der Heimat einen grotesk großen Marmorschrein mit den Abbildern seiner Lieben. Fast sein gesamtes Geld steckt er in das Memorial. Jeden Tag geht er hin, er lebt mit seinen Toten, schläft auch dort. Anderthalb Jahre später kommt er an einem kalten Winterabend nach Zürich-Kloten, um den Fluglotsen Peter Nielsen vor dessen Haus zur Rede zu stellen. Er tötet ihn im Affekt. Nielsens Frau und seine Kinder müssen die Bluttat miterleben. Kalojev wird verurteilt. In seiner Heimat ist er ein Held, obwohl der Präsident Nordossetiens gerade davor warnte. Nach drei Jahren kommt er frei und wird stellvertretender Bauminister.

Die Trauer ist stiller

Die Trauer der Channanovs und der anderen Angehörigen ist stiller – aber nicht weniger schwer. Askar kann darüber kaum sprechen. Aber er hält Vorträge vor seinem Mitschülern und vor Dorfgemeinschaften im Überlinger Hinterland. Er erzählt von Baschkirien und von Ufa. So kann er den Leuten seine Heimat näherbringen.

Morgen, am 1. Juli, werden seine Eltern anreisen, zusammen mit den anderen Angehörigen und Hinterbliebenen. 155 Gäste umfasst die Delegation. Auch Fidus Yamaltdinov, stellvertretender Ministerpräsident von Baschkirien, wird dabei sein. Tags drauf ist ein Treffen mit Peter Friedrich, Europa- und Bundesratsminister in Berlin, angesetzt. An der Gedenkstätte Brachenreuthe werden am Abend die Namen der 71 Absturzopfer und auch der Name Peter Nielsen verlesen. Dann sprechen christliche und moslemische Geistliche Gebete.

Auch in Ufa haben sie den Toten ein Denkmal errichtet. In vier Reihen sind die Grabsteine angeordnet, entsprechend der Sitzordnung des Flugzeugs. 55 der 71 Opfer, darunter 45 Kinder und Jugendliche, sind hier bestattet. Für den Lotsen Peter Nielsen, auch er ein Unglücksmensch, haben sie in der Skyguide-Zentrale ein Mahnmal errichtet. Es erinnert sie immer an die schwärzeste Stunde der schweizerischen Flugaufsicht. Aber das sagen sie natürlich nicht. Nielsen war an jenem Abend in der Züricher Flugüberwachungszentrale der verlassenste Mensch der Welt. Die Telefonanlage kaputt, das optische System wegen Wartungsarbeiten zum Teil abgeschaltet und sein Kollege zudem in der Pause, musste er zwei Radarmonitore gleichzeitig bedienen. Statt sich um die Flugzeuge auf Kollisionskurs zu kümmern, war er mit einem verspäteten Flieger aus Kreta für den Flughafen Friedrichshafen beschäftigt. Erst spät erkannte er die Gefahr der sich kreuzenden Routen beider Flugzeuge.

Es war eine kaum mögliche Wahrscheinlichkeit, dass die Flugzeuge sich in dieser Höhe berühren. Meist gehen solche Annäherungen doch noch glimpflich aus. Acht Beinahezusammenstöße zählte Skyguide nach der Katastrophe von Überlingen – obwohl man versprochen hatte, derlei werde sich nie wiederholen. So unwahrscheinlich der Zufall in der Luft, so unglaublich war das Wunder, dass auf dem Boden niemand durch die herabstürzenden Wracks, die Tausenden Einzelteile, die herniederregneten, verletzt wurde. Handtellergroße Unterlagsscheiben lagen auf dem Golfplatz von Owingen. Sie allein hätten einen Menschen schon erschlagen können. Das Unglück brachte Alina, 70 weiteren Menschen und schließlich einem Fluglotsen den Tod. Von ihnen bleibt nichts als die Erinnerung. Jeder neue Jahrestag erzählt davon.