Das britisch-schwäbische Team präsentiert mit dem neuen Silberpfeil, dem Mercedes AMG W03 ein Rennauto, von dem es überzeugt ist.  

Barcelona - Paranoia ist eine weit verbreitete Krankheit in der Formel 1. Sie rührt daher, dass jeder jedem misstraut. Da wird dann so ein banaler Umstand, dass Mercedes sein neues Formel-1-Auto nicht zeitgleich mit den anderen Teams präsentiert, sondern zwei Wochen später, zu der Quelle aller möglichen Verschwörungstheorien. Mercedes will etwas verstecken, das die Konkurrenz nicht sehen soll, mutmaßten die einen. Mercedes will etwas nicht zeigen, das in die Grauzone des Reglements fällt, glaubten die anderen.

 

Seit Michael Schumacher und Nico Rosberg die Decke vom neuen Mercedes AMG W03 gezogen haben, ist bekannt, dass weder das eine noch das andere stimmt. Mercedes hat das Rennauto nicht noch einmal neu erfunden. Der neue Silberpfeil trägt keinen Supertrick in sich, jedenfalls keinen, den das geübte Auge von außen erkennen könnte. Andererseits zeigt das Auto einige interessante Detaillösungen, die man aber nicht so lange hätte verstecken müssen, wie oft unterstellt wurde.

Manchmal kann die Wahrheit ganz unspektakulär sein. Mercedes hat sich mehr Zeit gelassen, weil sie sich im Vorjahr zu wenig Zeit nahmen und dafür dann in der Testphase mit langen Standzeiten wegen Defekten bezahlten. "Diesmal haben wir ein echtes Rennauto", vergleicht der Mercedes-Sportchef Norbert Haug. "Im Vorjahr war es ein Testauto, das wir dauernd nachbessern mussten."

Die "kontrollierte Aggressivität"

Der neue Silberpfeil sieht ungewöhnlich aus. Das ist das Beste, was man über die Optik der neuen Formel-1-Generation sagen kann. Schön ist anders. Die spitze dünne Nase mit der hohen Stufe im Chassis regt zu Vergleichen mit dem Tierreich an: so sieht ein Storch aus. Dass mit so wenig Karbonmasse in der Nase auf Anhieb der Crashtest bestanden wurde, ist eine Meisterleistung der Kohlefaserspezialisten im Haus. Der Trick mit der dünnen Nase löst einen Widerspruch auf: Die Nase ist hoch und doch nicht hoch. Unten kann genügend Luft zum Diffusor durchströmen, oben liegt sie tiefer als bei der Konkurrenz.

Das ganze Auto ist länger als im Vorjahr, was die Aerodynamiker freut. Sie haben mehr Platz, um mit der Luft zu spielen. Die Seitenkästen sind schlanker, was der Kühlung zugutekommt. Und der Auspuff bläst Richtung Diffusor. Der neue Mercedes hat aber auch verborgene Werte. Der Schwerpunkt liegt tiefer, das Gewicht wurde deutlich abgesenkt. Das schafft Freiheiten beim Platzieren des Ballasts. Eine der Schwächen des letztjährigen Autos war der hohe Reifenverschleiß an der Hinterachse. Man hatte nicht genug Spielraum, um die Hinterreifen durch das Verschieben von Ballast erfolgreich zu entlasten.

Die Ingenieure im englischen Brackley haben riskanten und alternativen Technikkonzepten abgeschworen. Damit waren sie 2011 auf die Nase gefallen. Der Teamchef Ross Brawn spricht von einer "kontrollierten Aggressivität", wenn die Sprache auf das Konstruktionsprinzip kommt. "Im letzten Jahr waren wir zu aggressiv. Bei diesem Ansatz läuft man Gefahr, dass man über das Ziel hinausschießt. Diesmal haben wir darauf geschaut, dass wir für jede alternative Lösung gute Gründe haben."

Neue Kompetenzen im Technikteam bei Mercedes

So richtig spät dran ist Mercedes gar nicht, wenn man einmal genau nachrechnet. Bevor am ersten Testtag von Barcelona offiziell der Vorhang fiel, hatte das neue Auto bereits drei Generalproben und 570 Kilometer hinter sich. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr ging auf Anhieb alles glatt. Kein Hydraulikschaden, kein Hitzestau unter der Verkleidung, kein Auspuff, der umliegende Karosserieteile in Brand setzt.

Die Körpersprache sagt oft mehr als tausend Worte. Im Vorjahr war die Anspannung zu spüren. Diesmal ist Gelassenheit Trumpf im Camp der Silberpfeile. "Wir sind so gut vorbereitet wie noch nie", behauptet Brawn: "Das Auto ist von der Mechanik her seit geraumer Zeit fertig. Seitdem wurde es intensiv auf Prüfständen getestet. Die Aerodynamiker können sich jetzt voll auf die Melbourne-Spezifikation konzentrieren. Ich hätte mir nur Sorgen gemacht, wenn es jetzt hier in Barcelona fünf Zentimeter Schnee gehabt hätte."

Ross Brawn kann also durchatmen. Die Neuzugänge im Technikbüro lassen ihn wieder Teamchef sein. "Ich muss jetzt nicht mehr in Technikmeetings sitzen. Diese Arbeit nehmen mir Bob Bell, Aldo Costa und Geoff Willis ab." Männer, auf die sich der ehemalige General von Ferrari verlassen kann. Sie waren alle schon Technikchefs bei anderen Teams. Norbert Haug sieht in der Umstrukturierung noch eine andere Qualität: "Die Umsetzungsgeschwindigkeit wurde erhöht. Sollten wir einmal in Not geraten, haben wir jetzt die Kapazität, schneller zu reagieren."

Während Michael Schumacher die Arbeit im Cockpit verrichtete, betrieb Kollege Nico Rosberg Datenstudium. Rosberg war den neuen Silberpfeil bereits am Sonntag gefahren. Ein Tag ohne größere Pannen. "Das ist schon mal ein Unterschied zum letzten Jahr", konstatiert Rosberg und lobt: "Es war eine gute Entscheidung, das Auto später zu bringen. Und ich blicke bei uns überall in positive Gesichter."