Die türkische Ökonomie scheint auf dem Weg der Erholung – trotz des gescheiterten Putsches vor einem Jahr, der Verhängung des Ausnahmezustands und dem Abrutschen in die Rezession. Der türkische Staatspräsident Erdogan flutet das Land mit Krediten, um seine Führung zu sichern.

Istanbul - Wer auch nur zwei Monate außerhalb der Türkei war, spürt bei der Rückkehr sofort die wirtschaftlichen Probleme: Die türkische Pizza Lahmacun kostet in Istanbul statt 1,30 plötzlich 1,50 Euro. Bus- und Metrotickets verteuerten sich um rund zehn Prozent. Die Inflation galoppiert. Doch wenn der Fremde dann sein Geld in türkische Lira tauscht, stellt er erfreut fest, dass er für seinen Euro deutlich mehr als vier Lira bekommt – vor einem Jahr waren es noch 3,20 Lira. Was für Touristen gut ist, ist schlecht für die Türken: Es treibt die Preise von Importwaren und verteuert Dollar- und Eurokredite.

 

So sind einerseits Krisensymptome unübersehbar; andererseits hat sich laut neuen Daten des türkischen Statistikamts das Wachstum der Wirtschaft überraschend beschleunigt und erreichte im ersten Quartal unerwartete fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und es gibt weitere gute Nachrichten. Die angeschlagene Tourismusbranche berichtet von einem Boom bei Last-Minute-Kunden und Feriengästen aus Russland. Die Exporte und der Inlandskonsum steigen an. Alles Erfolgsmeldungen, auf die der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP stolz reagieren.

Die türkische Ökonomie scheint auf dem Weg der Erholung – trotz des gescheiterten Putsches vor einem Jahr, der Verhängung des Ausnahmezustands und dem Abrutschen in die Rezession. Doch wie berechtigt ist die Euphorie?

Das System funktioniert auf Kredit, kritisiert ein Wirtschaftsexperte

Gar nicht, sagen kritische Beobachter und Analysten wie Gareth Jenkins, ein in Istanbul lebender Türkei-Experte vom schwedischen Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik. „Das ganze System funktioniert nur, weil die Regierung enorme Kredite hineinpumpt.“ Erdogan setze eine Wirtschaftspolitik fort, die er nach dem Putschversuch begonnen habe, um seine Zustimmungsraten bei der Bevölkerung zu bewahren. Er flute die Wirtschaft mit Krediten, um kurzfristiges Wachstum zu erzeugen. „Alles dreht sich um die Wahlen im November 2019.“ Der Präsident weiß, dass er 2019 nur siegen kann, wenn die Wirtschaft floriert, denn sonst verliert er den Rückhalt in der Bevölkerung.

Der knappe Sieg beim Verfassungsreferendum ist ein Warnsignal. Deshalb legte die Regierung schon kurz nach dem Putschversuch ein umfassendes staatliches Konjunktur- und Kreditprogramm auf. Die wichtigste Maßnahme war eine staatliche Kreditgarantie von 250 Milliarden türkische Lira (60 Milliarden Euro) für kleine und mittlere Unternehmen, um eine Kreditklemme zu verhindern. Damit übernimmt der Staat das Ausfallrisiko und entlastet die Banken. Das Kreditprogramm hat viele Firmen vorerst vor dem Ruin gerettet. „Sie versuchen, die Wirtschaftsaktivität so lange wie möglich am Laufen zu halten – aber die Maßnahmen sind nicht nachhaltig. Der Absturz wird kommen“, sagt Jenkins.

Zudem übertrug die Regierung Anteile an Großunternehmen wie Turkish Airlines im Wert von rund 180 Milliarden Euro an einen Staatsfonds, um damit Kredite für die staatlichen Megabauprojekte abzusichern. Zusätzliche Werte von rund elf Milliarden Dollar (zehn Milliarden Euro) für die Staatskasse brachten die Enteignungen von Firmen ein, denen eine Nähe zur islamischen Gülen-Bewegung, dem mutmaßlichen Urheber des Putschversuchs, vorgeworfen wird. Steuersenkungen auf Konsumartikel sollen den Verbrauch stimulieren. All diese Maßnahmen zeitigten Wirkung. Doch können die schönen Zahlen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die türkische Wirtschaft längst nicht mehr frühere Wachstumsraten erzielt.

Die Investoren meiden die Türkei

„Wenn ich mit Investoren aus dem Ausland spreche, sagen eigentlich alle, dass sie die Türkei derzeit meiden“, erläutert Türkei-Experte Jenkins. „Sie lenken noch Geld in den Aktienmarkt, weil sie das Geld dort sofort wieder abziehen können. Aber die langfristigen ausländischen Direktinvestitionen kommen nicht mehr.“ Die großen ausländischen Investoren sorgten sich um die instabile politische Lage und die mangelnde Rechtssicherheit. „Die Regierung hat nicht nur angebliche Gülen-Firmen beschlagnahmt, sondern auch solche, die mit Gülen-nahen Firmen lediglich Kontakt hatten. Und sie hat begonnen, ausländische Firmen zu bedrohen.“ So seien zu Jahresbeginn hochpreisige Autoimporte aus Südafrika mit einem Sonderzoll belegt worden – eine Maßnahme, die ausschließlich auf Mercedes-Limousinen ziele.

Der Experte bezweifelt wie andere Analysten zudem die Zahlen der türkischen Statistikbehörde. „Ende letzten Jahres änderte das Institut plötzlich die Methode, nach der die ökonomischen Daten erhoben werden. Auf einmal stand die türkische Wirtschaft viel besser da, als Analysten und Experten gedacht hatten. Aber wir verstehen bis heute nicht, wie Turkstat diese Statistiken kalkuliert.“ Statt die Probleme anzugehen, habe sich Erdogan offenbar entschieden, sie einfach zu ignorieren, meint Jenkins. „Aus politischen Gründen pumpt er weiter Geld ins System. Das geht nicht ewig so weiter. Vermutlich wird er deshalb vorzeitig Neuwahlen ansetzen.“