Lateinamerika feiert seinen „Papa Francisco“. Doch im Lebenslauf von Bergoglio gibt es ein ungeklärtes Kapitel: während der Militärdiktatur soll er Glaubensbrüder verraten und mit den Machthabern zusammengearbeitet haben.

Stuttgart - Der Jubel ist groß, von Mexiko bis Feuerland macht sich das beglückende Wir sind-Papst-Gefühl breit. Der erste lateinamerikanische Papst in zweitausend Jahren Kirchengeschichte, das erfüllt die Menschen mit Stolz. Aber die allgemeine Freude wird überschattet von den Zweifeln, die auf der Vergangenheit von Jorge Mario Bergoglio, dem neuen Papst Franziskus, lasten.

 

Die Vorwürfe wiegen schwer, und Bergoglios Erwiderungen nach jahrelangem Schweigen überzeugen viele gar nicht: War der heutige Papst ein Kollaborateur der Militärregierung, die Argentinien von 1976 bis 1983 im Würgegriff hielt? Hat er zwei seiner jesuitischen Ordensbrüder ans Messer geliefert? „Die Geschichte verurteilt ihn: in ihrem Licht erscheint er zu Zeiten der Diktatur der militärischen Macht nahestehend“, meint der Soziologe Fortunato Mallimacci.

Ist der neue Papst ein Kollaborateur?

Und vernichtender noch fällt das Urteil des Journalisten Horacio Verbitsky aus, eines alten Kämpfers gegen die Diktatur, der die Vorwürfe gegen Bergoglio nach langen und detaillierten Recherchen vor drei Jahren ausgebreitet hat. Er hält den neuen Papst für einen Kollaborateur, der seine Glaubensbrüder verraten und mit der Macht zusammengearbeitet hat.

Am 23. Mai 1976, kurz nach der Machtübernahme der Militärs, wurden die beiden Jesuitenpriester Francisco Jalics und Orlando Yorio festgenommen. Sie waren engagierte Armenpriester, die in den Elendsvierteln arbeiteten – damals eine in die Nähe der Subversion gerückte Tätigkeit. Man verschleppte sie in die berüchtigte ESMA, die Marinetechniker-Schule in Buenos Aires, die damals als Folter- und Verhörzentrum diente. Die beiden waren also „verschwunden“.Dem Journalisten Verbitsky zufolge hatte Bergoglio als ihr Vorgesetzter sie zuvor aufgefordert, von ihrem immer gefährlicher werdenden Einsatz in den Slums abzusehen. Und als die beiden sich weigerten, habe Bergoglio ihnen den Schutz des Ordens aufgekündigt. Tatsächlich wurden sie, nachdem sie verschwunden waren, formell aus dem Orden ausgeschlossen. „Wir wussten, woher der Wind wehte und wer hinter den Verleumdungen steckte, also habe ich die fragliche Person angesprochen und ihr gesagt, sie spiele mit unserem Leben“, schrieb der heute hochbetagt in Deutschland lebende Jalics in seinem 1995 erschienenen Buch „Meditationsübungen“. „Der Mann hat mir dann versprochen, dass er die Militärs davon überzeugen werde, dass wir keine Terroristen seien . . . Später stellte sich klar heraus, dass der Mann sein Wort nicht gehalten hat.“ Der Mann – das war Bergoglio, wie Jalics Verbitsky zufolge später offen sagte.

Bergoglio will Bedrohte bei sich aufgenommen haben

Bergoglio äußerte sich erst Jahrzehnte später, 2010, für eine von ihm autorisierte Biografie. Demnach seien die beiden Männer nach einigen Monaten Folter und Kerker bloß freigekommen, weil er sich für sie eingesetzt habe. Die Kontakte, die er mit den obersten Figuren der Diktatur, mit General Jorge Videla und Admiral Emilio Massera, unterhielt, seien damals bewusst nicht an die Öffentlichkeit gebracht worden, weil der diskrete Einsatz für die Opfer effizienter gewesen sei. Er habe mehrfach Bedrohte und Bedrängte bei sich versteckt, sagte Bergoglio. Einem von den Militärs Verfolgten habe er die Flucht ermöglicht, indem er ihm seinen Ausweis zur Verfügung gestellt habe; er und das Opfer hätten eine gewisse Ähnlichkeit miteinander gehabt.Um Zugang zu General Videla zu bekommen, habe er den Militärkaplan, der im Hause des Diktators regelmäßig die Messe lag, davon überzeugt, sich krankzumelden und ihn, Bergoglio, als Ersatz zu schicken – was auch geschehen sei. Er habe bei dem Gespräch mit Videla den Aufenthaltsort von Verschwundenen herausgefunden, sagte Bergoglio seinem Biografen.

Tatsächlich hat die Hierarchie der Amtskirche in Argentinien mit der Diktatur engste Verbindungen unterhalten; die antikommunistische Stoßrichtung des staatlichen Terrors war durchaus im Sinne des konservativen argentinischen Klerus. Und viel zu viele Priester betätigten sich aktiv im Sinne des Regimes. Die Piloten der berüchtigten Todesflüge, bei denen die gefesselten Gefangenen, meist Oppositionelle, von Flugzeugen aus ins Meer geworfen wurden, konnten danach die Beichte ablegen und erhielten geistlichen Beistand.

Eine Entschuldigung der Amtskirche wäre einfach gewesen

Wie nützlich die Kirche war, gab Diktator Videla Jahrzehnte später bei seinem Prozess zu Protokoll: die Bischöfe „haben uns beraten, wie man das mit den Verschwundenen am besten regelt . . . Sie haben den Angehörigen gesagt, sie sollten ihre Verschwundenen nicht weiter suchen, weil sie tot sind.“ Auf der anderen Seite gab es an  der Basis zahlreiche von der Befreiungstheologie beeinflusste Priester, die, wie Francisco Jalics und der vor 13 Jahren verstorbene Orlando Yorio, engagiert für die Armen eintraten und sicher oft auch heimlich den Kampf gegen die Diktatur unterstützen. Einige von ihnen wurden gefasst, gefoltert und getötet.

Wo auch immer im Falle der beiden Jesuiten die Wahrheit liegt – sich korrekt zu verhalten war damals, unter solch extremem Druck, garantiert schwer. Was jedoch leicht gewesen wäre, das wäre eine Entschuldigung der Amtskirche gewesen. Aber die – geführt vom Erzbischof von Buenos Aires, dem heutigen Papst – brauchte bis Herbst 2012, bis sie sich zu einem Wort des Bedauerns durchrang.

Und das hat viele Opfer nur noch mehr erbost: denn die Erklärung Jorge Mario Bergoglios gab der Gewalt auf beiden Seiten Schuld – Täter und Opfer wurden also gleichgesetzt.