Der von Verbandspräsident Luis Rubiales erzwungene Kuss für die Weltmeisterin Jennifer Hermoso versetzt Spanien in große Aufruhr, weil ein Mann in der Stunde des größten Triumphs der Fußballerinnen nicht weiß, wo die Grenzen sind.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Jorge Vilda die Gesänge der Weltmeisterinnen aus der Kabine nachmachen sollte. Der Nationaltrainer lächelte ein wenig gequält, dann presste er einige „Campeones, Campeones“-Verse hervor, was aber irgendwie hölzern klang. Ohnehin wirkte der 42-Jährige in der Stunde des größten Triumphs von „La Furia Roja“ bei seiner letzten Audienz vor der Weltpresse merkwürdig allein. Nachdem sich der Madrilene die Goldmedaille umgebunden hatte, umarmten ihn noch zwei Journalisten. Interessanter war, was im Australia Stadium nicht passierte: dass keine Spielerinnen mit Kaltgetränken hereinstürmten, wie das 2015 und 2019 in Vancouver und Lyon geschah, als die US-Trainerin Jill Ellis wie ein begossener Pudel auf dem Podium saß. Es ist offenkundig, dass sich in Spanien nur eine Zweckgemeinschaft für den Titel zusammengerauft hat, damit nach der U 17 und U 20 auch die Frauen die höchste Ehrung empfangen.

 

Eklat bei der Siegerehrung

Ausgerechnet die Siegerehrung nach dem unterhaltsamen Endspiel gegen England (1:0) sollte den größten Eklat bringen. Königin Letizia und Tochter Sofia strahlten bei Übergabe der Plaketten unentwegt, als Verbandspräsident Luis Rubiales wenige Meter weiter mit beiden Händen den Kopf von Jennifer Hermoso griff, um ihr einen Kuss auf den Mund aufzudrücken. Die Nahaufnahme zeigte: Der herrschende Chef der Real Federación Española de Fútbol (RFEF) hatte die heimliche Chefin des Teams gegen ihren Widerstand geküsst. Es gibt Männer, die sind im Frauenfußball fehl am Platze.

Der niederländische Nationaltrainer Andries Jonker, bei seinen Spielerinnen auch wegen seines respektvollen Umgangs geschätzt, brandmarkte Rubiales’ Verhalten als „unfassbar“, „inakzeptabel“ und „unerhört“. „Hat mir nicht gefallen“, sagte Hermoso in einer ersten Reaktion vor dem Abgang aus dem Olympic Park. Später hieß es von der 33-Jährigen, dass es sich angeblich um eine „natürliche Geste der Zuneigung“ gehandelt habe; beruhend „auf völliger Gegenseitigkeit aufgrund der immensen Freude“. Dummerweise sah das ganz anders aus. Wer hat diesen Sinneswandel erzwungen?

Bei Radio Marca wehrte sich Rubiales umgehend. „Der Kuss mit Jenni? Idioten gibt es überall.“ Man solle nicht jedem Mist Beachtung schenken, richtete er auf dem Weg zum Flughafen erbost aus. Damit aber lag der 45-Jährige völlig falsch, wie er zuhause gelandet dann auch festgestellt hatte. Er habe keine „andere Wahl“, als sich zu entschuldigen und „daraus zu lernen“ teilte Rubiales mit. Wenn er den Verband vertrete, müsse er vorsichtiger sein, so der Funktionär. Er hielt allerdings an seinem Standpunkt fest, dass die Aufregung „idiotisch“ sei.

Nicht der erste Vorfall dieser Art

Dabei ist verbrieft, dass der Glatzkopf mit dem ausgeprägten Nähe-Bedürfnis schon nach dem Halbfinale gegen Schweden (2:1) einigen Spielerinnen vor den letzten anwesenden Reportern erst um die Hüften griff, dann sie von hinten küsste, als sie letzte Interviews gaben. Diese Begebenheiten aus dem Eden Park in Auckland haben nicht viele mitgekommen, aber auch dort haben es die Protagonistinnen über sich ergehen lassen.

Dass der ranghöchste Fußballfunktionär diese Form der Machokultur nun vor einer Weltöffentlichkeit aufführte, verursachte riesige Aufregung. Irene Montero, Spaniens Gleichstellungsministerin, ließ wissen: „Es ist eine Form der sexuellen Gewalt, die wir Frauen täglich erleiden und die bisher unsichtbar war und die wir nicht normalisieren dürfen.“ Im ähnlichen Duktus äußerte sich auch die Ministerin für soziale Rechte, Ione Belarra: „Wir alle denken: Wenn sie das vor den Augen ganz Spaniens tun, was werden sie dann nicht auch im Privaten tun? Sexuelle Gewalt gegen Frauen muss ein Ende haben.“

Und plötzlich steht die Frage im Raum, ob der öffentliche Protest von 15 Nationalspielerinnen, von denen nur drei zur WM zurückkehrten, gegen die Zustände im Verband vielleicht nicht auch solches Verhalten implizierte. Wer weiß, was hinter den Kulissen passiert? Der für seinen Machthunger bekannte Rubiales hatte nach der Revolte fest an der Seite der Familie Vilda gestanden. Neben Jorge Vilda besitzt auch Vater Angel seit Langem einen Verbandsposten. Vielleicht störten sich „Las 15“ an einem Umgang, in dem Tabuzonen verschwimmen. Eine Aufarbeitung im Männerzirkel RFEF tut not, vermutlich werden Gesellschaft und Politik dafür viel Druck erzeugen und vor allem aufrechterhalten müssen .

Verschwimmen Tabuzonen im spanischen Verband?

Auch die Frauen hätten jetzt die Macht, diese Missstände nicht mehr hinzunehmen. Bei der WM hat eine neue Generation gestrahlt, die dafür sorgen kann, dass nicht nur ein Stern auf das rote Trikot gestickt wird. Nicht nur Angreiferin Salma Paralluelo (19) steht der Weg zur Weltkarriere offen. Den Goldenen Ball als beste Spielerin hatte Aitana Bonmati empfangen, die mit ihrer Technik und ihrem Instinkt das Turnier prägte.

Als Hommage an den Vereinsheiligen Johan Cruyff trägt sie bei Champions-League-Sieger FC Barcelona die Rückennummer 14 – bei der WM war es die Sechs von Xavi. Sie ist nach ihrem Rücktritt wieder zurückgekehrt, deutete sie einmal an, weil sie wie ihre Idole Xavi und Iniesta eine weltmeisterliche Krönung erleben wollte. Sie trumpfte so eindrucksvoll auf, dass vor dem Endspiel Ex-Barça-Coach Pep Guardiola leichtsinnigerweise gestand: „Ich bin komplett verliebt in sie.“ Beim liebevoll nach schönem Fußball spanischer Bauweise verrückten Trainer von Manchester City wusste allerdings jeder, wie solche Sätze gemeint waren.