Australien knüpft ein so enges Band zu seinen neuen Nationalheldinnen, dass ein Fußballlehrer als Uppsala plötzlich zum Sprachrohr der Nation wird.

Die Augen hatte der australische Nationaltrainer Tony Gustavsson so weit aufgerissen wie den Mund, als er eine so feurige Fernsehansprache hielt, dass diese auch ohne Ton ihre Wirkung nicht verfehlt hätte. Erst deutete der gebürtige Schwede mit dem Daumen auf die 50 000 Fans im Brisbane Stadium hinter ihm, dann richtete er den Blick direkt in die Kamera, um sich für die millionenfache Rückendeckung beim historischen WM-Halbfinaleinzug Australiens in einem wahnwitzigen Elfmeterschießen gegen Frankreich (7:6) zu bedanken. „Die Courage, die alle gezeigt haben, ist unglaublich. Hier geht es nicht um die Medaille, hier geht es um das Herz, das schlägt. Und um das Herz, das in diesem Land schlägt.“ Und noch einmal: „Thank you!“

 

Gefeiert wie Popstars

Nach dem verpatzten Gruppenspiel gegen Nigeria (2:3) war ihm noch vorgeworfen worden, beim Umgang mit der verletzten Starstürmerin Sam Kerr nicht den richtigen Ton zu treffen – nun taugte der 49-Jährige zum Sprachrohr der Nation. Der Fußballlehrer aus Uppsala möchte in Down Under ein Vermächtnis hinterlassen – und da sind seine Matildas auf einem guten Weg: Wer Kanada, Dänemark und Frankreich eliminiert, der kann auch Weltmeister werden. Die Begeisterung rund um die australischen Fußballerinnen steuert zum Halbfinale gegen England im Australia Stadium am Mittwoch (12 Uhr/ARD) auf einen neuen Höhepunkt zu.

Als am Sonntag die neuen Nationalheldinnen nach Sydney übersiedelten, wurden sie gefeiert wie Popstars. Der begeisterte Empfang am Flughafen deutete darauf hin, dass alles noch größer wird. Gustavsson erinnerte nach Bestehen der Nervenprobe an die „Socceroos“, das Männer-Nationalteam, das erst im Elfmeterschießen gegen Peru die Fahrkarte zur WM nach Katar gelöst hatte. „Auch meine Spielerinnen haben genau gewusst, was zu tun ist.“ Cortnee Vine, die Schützin des letzten und 20. Elfmeters, sagte: „Ich weiß nicht, was ich fühle. Aber wir haben Geschichte geschrieben.“

Der Sender „Channel 7“ reibt sich als Rechteinhaber die Hände. Diesmal schalteten 4,9 Millionen Australier ein, für eine Sportübertragung der beste Wert seit zwei Jahrzehnten. Nicht eingerechnet die Menschen, die sich am Samstagabend zudem auf Fanfesten und Privatfeiern, in Bars und Pubs versammelten. Kein Finale der Australian Football League (AFL) und National Rugby League (NRL) erreichte eine solche Resonanz – und das will in Down Under etwas heißen.

Eine Gemeinschaft, die niemanden mehr fürchtet

Nur das Finale von Lleyton Hewitt 2005 bei den Australian Open (5,6 Millionen) und den 400-Meter-Lauf von Cathy Freeman 2000 bei den Olympischen Spielen (8,8 Millionen) hatten auf dem fünften Kontinent mehr Menschen gesehen. Dazu passt, dass Kerr und Kolleginnen jetzt in demselben Stadion spielen, in dem Freeman in einem gesellschaftspolitisch größeren Kontext in die Geschichtsbücher rannte. Ihr Besuch im Basecamp der Nationalspielerinnen vor WM-Start hat seinen Zweck offenbar erfüllt.

Doch es brauchte wohl erst den Schockmoment mit der Wadenverletzung der Starstürmerin mitsamt aller Kommunikationsproblemen des Cheftrainers, um zu der verschworenen Gemeinschaft zu werden, die nun niemanden mehr fürchtet. Gerade die beim FC Chelsea angestellte Kerr kann es nicht erwarten, gegen England anzutreten. Ein Freundschaftsspiel hatte ihr Team vor vier Monaten beim Europameister gewonnen. Was die Mentalität angeht, ist dieses Duell das vorweggenommene Finale.

Dem Druck standgehalten

Keine der australischen Führungsspielerinnen drückte sich vor der Verantwortung aus elf Metern. Der immense Druck zeigte sich aber speziell in Kerrs Gesicht: Die vor der WM mit Erwartungen überfrachtete Kapitänin war nach 55 Minuten als belebender Faktor ins Spiel gekommen, ehe auch sie angespannt am Punkt stand. „Es ging um Routine, Konzentration und das Festhalten an meinem Plan“, erzählte die 29-Jährige später, die ihr grasbeflecktes Trikot an ein zehnjähriges Mädchen überreichte, die sofort zum Social-Media-Star avancierte.

Matchwinnerin war allerdings die bärenstarke Torhüterin Mackenzie Arnold, deren vergebener Matchball beim fünften Versuch folgenlos blieb, als sie die Kugel wie einst Werder Bremens Michael Kutzop halbhoch an den rechten Außenpfosten setzte.

Frankreichs Nationaltrainer Hervé Renard wiederum hatte seine Ersatztorhüterin Solène Durand vergeblich als Elfmeterspezialistin eingewechselt. „Les Bleues“ wollen nun den Fokus sofort auf die Olympischen Spiele 2024 richten. Was als Gastgeber alles geht, haben sie in der Stadt, die ihrerseits 2032 die Spiele ausrichten wird, nun hautnah miterlebt.