Der chinesische Autor Liao Yiwu rechnet in der Paulskirche mit China ab und beschwört die sanfte Gewalt der Dichtung.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Mit dieser Rede dürfte Liao Yiwu endgültig verwirkt haben, jemals wieder Mitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes zu werden, an dessen Spitze der frisch gekürte Literaturnobelpreisträger Mo Yan steht. Was Liao zum Dank für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche zu sagen hat, ist für das offizielle China ein Schlag ins Gesicht. Und doch nur ein schwacher Abgleich für den Abgrund an Leiden, in dem jene Vertreter eines inoffiziellen Chinas zu leben gezwungen sind, denen Liao Yiwu seine Stimme leiht. Diese Rede macht China den Prozess, nicht mit Paragrafen, nicht mit dem Völkerrecht, sondern allein mit den Mitteln der Sprache und einer Legitimation, wie sie nur die Erfahrung unermesslichen Schmerzes verschafft. Das Urteil strukturiert in deutscher Sprache jeden Abschnitt der auf Chinesisch gehaltenen Rede: „Dieses Imperium muss auseinanderbrechen.“

 

Wie dieser ernste, konzentrierte Mann vom Dichter zum Richter wurde, fasst seine Laudatorin, die FAZ-Literaturkritikerin Felicitas von Lovenberg noch einmal zusammen: jenen „gewaltigen Abenteuerroman von einem, den man einsperrte, das Fürchten zu lernen“, der aber nun seinerseits mit seinen Büchern die chinesischen Behörden das Fürchten lehrt. Wobei man Liao Yiwu vielleicht eher als Zeuge denn als Richter ansprechen sollte. Denn seit ihn sein prophetisches Gedicht „Massaker“ am Vorabend der blutigen Niederschlagung des Studentenaufstands 1989 auf dem Tiananmen-Platz mit einem Schlag vom Hippie-Epigonen zum Sprachaktivisten beförderte, ist seine schriftstellerische Berufung unauflöslich mit dem Schicksal derer verknüpft, die dort ihr Leben ließen oder mundtot gemacht wurden, inhaftiert, und gefoltert. So wie Liao Yiwu selbst während vier Jahren – eine Zeit, die der aus einfachen Verhältnissen stammende Autor in bitterer Ironie als seine Universitätsjahre bezeichnet. Hier hat er das Leben studiert im Spiegel der Gedemütigten, der Gebrochenen und ihrer Geschichten. Sie zeichnet er auf, zuletzt in dem gerade erschienenen Buch „Die Kugel und das Opium“, das erste außerhalb von China verfasste Werk, nicht nur ein Zeugnis für die Opfer, sondern ebenso für die Unerschöpflichkeit von Liao Yiwus Lebensthema – auch in dem seit 2011 währenden deutschen Exil.

Ein Land, das Kinder massakriert, muss auseinanderbrechen

Aus dem Exil wird der 54-Jährige vermutlich erst wieder zurückkehren, wenn das Imperium auseinandergebrochen ist. Also nie. Oder doch? Eines der jüngsten Opfer, das auf der Todesliste des Buches dem Vergessen entrissen wird, ist der neunjährige Lü Peng. Er verlor bei dem Tiananmen-Massaker sein Leben. Seiner gedenkt Liao Yiwu zu Beginn seiner großen, eindrucksvollen Rede. Und er fährt fort: „Heute möchte ich allerdings eine andere Todesnachricht verkünden, die Nachricht vom Tode des chinesischen Großreichs. Denn ein Land, das kleine Kinder massakriert, muss auseinanderbrechen – das entspricht der chinesischen Tradition.“

Dahin nimmt Liao seine Zuhörer mit: in eine Vergangenheit, die tiefer reicht als 1989; in der der chinesische Philosoph Laotse, „ein Apologet des Spaltertums“, die Aufteilung eines Landes in kleine Einheiten empfohlen hat; in eine Zeit, in der unzählige Splitterstaaten zu einer nie da gewesenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Blüte führten.

Dieses für europäische Ohren etwas sonderbar anmutende Kleinstaatenidyll, wird freilich erst zu einem solchem durch das, was es bedroht: Schon mit der Einigung des Reiches und dem Bau der großen Mauer einher geht Sklaverei, Gewalt, Unterdrückung. Und lockte der erste Einheitsdespot Qin Shihuang einst 460 Philosophen in seine Hauptstadt, nur um sie bei lebendigem Leib begraben zu lassen, so schlägt Liao den Bogen zu den Millionen Toten, Verhungerten und Ermordeten, die der große Vorsitzende Mao in das Fundament des neuen China eingemauert hat. Im Aufruf zur Geschlossenheit sieht er das faulste Versatzstück aller Tyrannenrhetorik von Hitler, Stalin bis Gaddafi.

Wut auf die freie Welt.

Die Aversion gegen die Despotenknute der Verallgemeinerung bestimmt den Duktus dieser Rede, deren dichte Bildwelt Geschichten und Parabeln speist, bisweilen, als handele es sich um kleine Lehrstücke Brechts. Liao erzählt die Legende eines guten Eremiten, der auf der Flucht seinen gesamten Besitz, einen kostbaren Jadestein, preisgibt, um ein weinendes Neugeborenes zu retten. Dieses Handeln ist das Gegenteil von dem, was Liao in seiner Heimat vor Augen steht. Der Jadestein, mit dem dort den Menschen ihre Werte, ihre Solidarität, ihre Humanität abgekauft werden, ist die wirtschaftliche Prosperität.

Spätestens hier ist Liao bei uns angekommen. Denn wie sehr die Motive, die unsere ökonomisierte Welt antreiben, die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bedrohen, hat die Finanzkrise gelehrt. Das Licht der westlichen Freiheit und ihrer konsumistischen Freuden wirft einen langen Schlagschatten, der nicht nur die Ränder der eigenen Gesellschaft ins Dunkle taucht, sondern weit darüber hinausreicht. „Kommt und bedient euch unserer billigen Arbeitskräfte“, ruft Liao zornig den versammelten Paulskirchen-Honoratioren zu, „kommt und verschmutzt unsere Flüsse, verpestet unsere Luft, in dieser größten Müllkippe stecken die besten Geschäftsmöglichkeiten.“

Ein Zeugnis für alle, denen das Imperium die Würde geraubt hat

Auf der Strecke aber bleiben all jene, die sich dem imperialen Einheitsstrom widersetzen: die Angehörigen der Tiananmen-Opfer, Falun-Gong-Anhänger, enteignete Bauern, Uiguren, Mongolen und Tibeter. „Könnte Tibet nicht einfach ein freies Land sein, das nicht von einer fernen Diktatur in Peking unterdrückt wird?“ Mit jenem Nationalismus, der die Einheit Europas bedroht, hat diese Frage nichts zu tun.

Aber die konzentrierte Wut seiner in tiefstem Ernst vorgetragenen Rede, legt nicht nur Zeugnis für alle jene ab, denen das Imperium die Würde geraubt hat, sondern auch für die unwiderstehliche Kraft der Sprache und der Literatur. Eindrücklicher als mit jenem gesungenen Gedicht auf die Mütter von Tiananmen, das Liao mit traditionellen chinesischen Klangschalen untermalt, wurde die sanfte Gewalt der Dichtung an diesem Ort selten greifbar – eine Gewalt, an der auch ein Imperium, wer weiß, vielleicht einmal zerbricht.