Wie geht es Frühchen, wenn sie älter sind? Die sehr unterschiedlichen Geschichten von zwei Kindern, die beide in der 26. Woche geboren worden sind.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - David ist immer schneller aus der Puste als sein Bruder. Ihm fällt es auch schwerer als dem drei Jahre älteren Lucas, sich länger zu konzentrieren. Er weiß inzwischen, woran das liegt, warum ihm nicht alles so zufliegt wie dem großen Bruder. David ist in der 26. Woche auf die Welt gekommen – rund dreieinhalb Monate zu früh.

 

Man sieht dem heute Achtjährigen das nicht an. Er ist der Zweitgrößte seiner Klasse, ein sportlicher Junge. Aber Davids Hände lassen ahnen, dass da mal etwas war. Weiße Punkte überziehen die Handrücken. Sie sind Überbleibsel der vielen Zugänge, die ihm auf der Neugeborenenintensivstation im Olgahospital gelegt werden mussten, damit Medikamente und Infusionslösung in seinen Körper fließen konnten.

David schaut ungläubig

Seine Eltern haben David erst spät von den Umständen nach seiner Geburt erzählt. Immer noch schaut er ungläubig, wenn er die Brutkastenfotos sieht, die ihn an der Beatmungsmaschine zeigen. „Wie groß ist da mein Fuß, Mama?“, fragt er. „Nur so groß wie ein halber Finger“, antwortet seine Mutter. Tanja Frömel-Lazogianis denkt nur selten an die fünfeinhalb Monate zurück, bis sie David endlich aus dem Olgäle mit nach Hause nehmen konnten. Das Rauschen der Beatmungsgeräte, das Bimmeln der Alarme, das tägliche Abschiednehmen vom Kind, weil man nicht über Nacht bleiben darf. „Das ist eine Zeit, die schließt man irgendwann weg“, sagt die 41-jährige Stuttgarterin.

Tanja Frömel-Lazogianis weiß, dass sie Glück hatten. David hat im Olgäle mit drei Frühchen ein Zimmer geteilt. Ein Kind ist nach sechseinhalb Monaten gestorben, ein Junge ist blind und spastisch gelähmt. Nur das dritte Frühchen hat sich so wie David sehr gut entwickelt.

Im Olgahospital werden jährlich 500 Frühgeborene behandelt, davon haben etwa 100 Kinder ein Geburtsgewicht von weniger als 1500 Gramm. Studien haben ergeben, dass Frühgeborene ein höheres Risiko für spätere Entwicklungsstörungen und bleibende Behinderungen haben (siehe Infokasten). Aber wen trifft es – und wie stark? Darüber können die Ärzte zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Neonatologie keine gesicherte Äußerung machen.

Vorhersagen sind schwierig

„Wir haben eine sehr geringe Vorhersagewahrscheinlichkeit“, sagt der ärztliche Direktor Matthias Vochem. Manchmal ist er selbst überrascht, dass Kinder, die sehr komplexe Krankheitsverläufe hatten, später völlig gesund seien. „Andere wiederum, die unkompliziert waren, hatten später neurologische Schwierigkeiten“, sagt er.

David wog bei der Geburt 950 Gramm – für sein Alter war das viel. Seine Eltern gaben ihm den Namen David, der Kämpfer. David sollte viel kämpfen müssen. Nur eine Woche lang konnte er alleine atmen, danach musste er seine Lunge beatmet werden. Wie viele Frühchen, die lange Sauerstoff benötigten, leidet David an der chronischen Lungenkrankheit Bronchopul-monale Dysplasie – er hat auch heute nur ein Lungenvolumen von 60 bis 70 Prozent.

Nach Hause mit dem Sauerstoffgerät

Mit Sauerstoffgerät kamen sie damals aus dem Olgäle nach Hause; nachts überwachte ein Monitor die Atmung. „Die ersten zwei Jahre hat er sich eigentlich nur mit Atmen beschäftigt“, erinnert sich Tanja Frömel-Lazogianis. Drehen, Krabbeln, Laufen lernen – all das kam deutlich später als bei anderen Kindern. „Aber es kam, er beißt sich durch“, sagt Davids Mutter, die seine Geschichte vor allem deshalb erzählt, um Mut zu machen. Denn heute geht es David trotz der Lungenkrankheit gut. Der Drittklässler besucht eine normale Schule. Er ist ein ordentlicher Schüler – und er geht leidenschaftlich gerne zum Ringen. Er hat sogar vor einem Jahr bei einem Wettkampf eine Goldmedaille gewonnen, weil er drei Kämpfe hintereinander gewonnen hat. Dass das möglich ist, hätte Tanja Frömel-Lazogianis noch vor wenigen Jahren nicht geglaubt.

Aber natürlich läuft nicht immer alles wie bei David. Viele Familien begleiten die Krankheiten sehr intensiv über lange Zeit. Ein anderer Stadtteil in Stuttgart, eine andere Geschichte. Julian ist ein zarter Junge. Schmal und klein für seine sechs Jahre. „Wenn ich sage, er ist vier, dann ist immer alles in Ordnung“, sagt seine Mutter Melanie Schreiber, die wie Julian eigentlich anders heißt. Auch ihr Kind ist bereits in der 26. Woche auf die Welt gekommen. Julian wog nur 460 Gramm und musste viele Infektionen, eine Hirnblutung und eine Augenoperation überstehen. Wie David leidet Julian an der Bronchopulmonalen Dysplasie. Im Kinderzimmer steht noch das Sauerstoffgerät in der Ecke – einen letzten Winter noch, zur Sicherheit.

Zauberhut auf dem Kopf

Julian hat sich einen selbst gebastelten Zaubererhut auf den Kopf gesetzt und läuft leichtfüßig durch die Wohnung, hinter seinem jüngeren Bruder hinterher. Er erinnere sie an ein Elfenkind, habe die Erzieherin aus dem Waldorfkindergarten mal gesagt. Das hat Melanie Schreiber gefallen. Sie ist froh, dass dort nicht nur auf Julians Defizite geguckt wird. So viele Tests musste ihr Sohn schon in der Klinik machen, in denen es immer nur darum ging, was er nicht kann. Dass er Musik liebt und wunderschön singt, zählte nicht. Melanie Schreiber hat sich entschieden, dass Julian auf eine Förderschule gehen soll. Sonst käme die Trennung später nach der Grundschule ohnehin. „Er ist auch ehrgeizig, und er soll auch Erfolge haben“, sagt sie.

Unsere Gesellschaft, sagt sie, sei leider sehr auf Leistung ausgerichtet. Manchmal frage sie sich, wo ihr Kind seinen Platz im Leben findet. Dann wieder sieht sie Julian an und ist verzaubert. Kürzlich hat die Familie Schwarzer Peter gespielt. Julians kleiner Bruder hat das Kartenspiel gleich verstanden. Julian auf seine Art auch. Er hat nur eigene Regeln erfunden.

Der Neonatologe Vochem berichtet von einer kanadischen Studie, die ihn persönlich sehr motiviere. Erwachsene ehemalige Frühchen wurden zu ihrer Lebenszufriedenheit befragt. „Obwohl sie mehr Schwierigkeiten hatten, mit mehr Handicaps zu kämpfen hatten, sind sie zufriedener“, sagt Vochem. Die Schwierigkeiten müssen sie stark gemacht haben.

Tag des frühgeborenen Kindes

Studien: Das Olgäle beteiligt sich an einer Langzeitstudie des Deutschen Frühgeborenen-Netzwerks in Lübeck über die Entwicklung von sehr kleinen Frühgeborenen. Die Ergebnisse liegen noch nicht vor. Zuvor haben die Lübecker die Entwicklung von Extremfrühchen in Schleswig-Holstein untersucht – die Kinder wurden bis ins frühe Schulalter begleitet. Knapp ein Drittel ist vollkommen gesund. Fast der gleiche Anteil hat eine schwerwiegende körperliche oder geistige Behinderung. Eine Hannoveraner Studie ergab, dass auch extrem kleine Frühchen deutlich bessere Entwicklungschancen haben, wenn ihre Mütter ein hohes Bildungsniveau haben. Die Kinder waren seltener behindert, sie zeigten deutlich bessere kognitive Leistungen.

Unterstützung: Anlässlich des Tages des frühgeborenen Kindes am Samstag weist das Gesundheitsamt auf eigene Unterstützungsleistungen für Familien mit frühgeborenen Kindern nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hin. Anlaufstelle ist der Sozialdienst Chronische Erkrankung oder Behinderung. Betroffene können sich unter der Telefonnummer 21 65 94 68 an den Sozialdienst wenden.