Künftig sollen in allen Stuttgarter Geburtskliniken Mütter mit Babys umfassender unterstützt werden. Immer mehr Mamas tun sich schwer beim richtigen Umgang mit dem neuen kleinen Wesen.

Stuttgart - Der kleine Milan (Name geändert) und seine Mutter waren der Kinderkrankenschwester bereits kurz nach der Geburt aufgefallen. „Die Mutter wickelte das Neugeborene, während sie Fernsehen guckte“, berichtet Regina Quapp-Politz, Abteilungsleiterin im Jugendamt. Die Mutter sei völlig unbeteiligt gewesen, habe keinerlei soziale Bindung zu dem Bub aufgebaut. Die Familienhebamme habe dann festgestellt, dass ihre Hilfe in diesem Fall nicht ausreiche. Milans vier ältere Geschwister seien bereits in der Kita aufgefallen und dem Jugendamt bekannt. „Der Zweijährige konnte nicht sprechen, nur lautieren, die Vierjährige hat nur ihren Kopf gegen die Wand geschlagen“, berichtet Quapp-Politz. „Die Eltern haben die Kinder in jeder Form vernachlässigt – wir haben alle Kinder rausgenommen.“

 

Mit Füttern und Wickeln allein ist es bei Babys nicht getan

Solche Fälle wie die von Milan und seinen Geschwistern gehörten zwar zu den Ausnahmen, doch viele Eltern seien unsicher, wie sie ihr Kind richtig versorgen sollen. „Manche jungen Frauen sagen: ,Bevor ich was falsch mache beim Kind, mach ich gar nichts‘“, berichtet Quapp-Politz. „Diese Intuition, was ein Kind braucht, geht verloren.“ Mit Füttern und Wickeln allein sei es nicht getan, sondern man müsse auch schmusen, kitzeln, mit dem Kind sprechen, es anschauen – kurzum: eine soziale Beziehung zu dem kleinen Wesen aufbauen. Die Zahl der Familien, die sofort nach der Geburt eines Kindes Unterstützung brauchen, nimmt laut Jugendamt zu. Das liege zum einen daran, dass viele Familien nach Stuttgart zuziehen, zum anderen aber auch daran, dass der Hilfebedarf aufwendiger werde, da die Problemlagen in den Familien komplexer würden. Häufig spielten psychische Belastungen, Geldmangel, Arbeitslosigkeit und Konflikte mit dem Partner eine Rolle, immer öfter mehreres davon gleichzeitig. Oft fehle es auch an realen sozialen Netzwerken zu Freunden und Familie. Ein Migrationshintergrund lag bei 71 Prozent der betreuten Familien vor.

Jedes Jahr brauchen 500 Mütter von Neugeborenen Hilfe

Das bisherige Angebot habe sich zwar inhaltlich bewährt, reiche aber vom Umfang her nicht aus. So gebe es bei Beratungsterminen Engpässe. Und bisher erfolgte die enge Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe nur an zwei Geburtskliniken. Das Jugendamt geht aber bei rund acht Prozent der Geburten im Jahr von einem Unterstützungsbedarf aus – das entspricht rund 500 der 6500 in den Stuttgarter Geburtskliniken geborenen Stuttgarter Kinder. Um diese Familien angemessen betreuen zu können, würde die Stadt ihr seit 2010 bestehendes Gesamtkonzept „Frühe Förderung von Familien“ gerne ausbauen. Angemessen bedeutet, belasteten Familien möglichst schon in der Schwangerschaft zur Seite zu stehen.

Geplant ist, zwei Teams mit insgesamt sechs Fachkräften in freier Trägerschaft einzurichten, die dann künftig eng mit allen Geburtskliniken zusammenarbeiten. Voraussetzung ist, dass der Gemeinderat dafür 360 000 Euro bereitstellt. Die Teams sollen aus Vertretern verschiedener Berufe zusammengesetzt werden: aus Sozialpädagogen, Erziehern, Heilpädagogen, Familienkinderkrankenschwestern, Familienhebammen und ähnlichen Professionen. Für städtische Beratungsfachkräfte in den Geburtskliniken sowie für eine Familieninformation in Form eines trägerübergreifenden Internetauftritts müsste der Gemeinderat zudem 2,1 Stellen bewilligen, die bisher im Haushalt nicht vorgesehen sind.

Immer mehr Familien nehmen Unterstützung in Anspruch

„Uns geht es darum, so früh wie möglich anzusetzen“, sagt der Jugendamtschef Bruno Pfeifle. „Wir geben lieber eine Familienhebamme in eine Familie, um diese im Umgang mit dem Kind zu unterstützen – wir könnten noch viel mehr Familienhebammen und Familienkrankenschwestern brauchen.“ Doch der Markt sei leer, so Quapp-Politz. Die Ausbaupläne der Stadt gründen auch darauf, dass die Zahl der Familien, die das familienunterstützende Angebot in Anspruch genommen haben, im Jahr 2014 von 137 auf 320 gestiegen ist – bei 8,8 Prozent davon wurde eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt. Den Zugang zu den Hilfen fanden die Familien bisher vor allem über die Beratungszentren und die Mitarbeiter von „Sonnenkinder“ – einem Angebot der St.-Anna-Klinik, dem Marienhospital, der Caritas und dem Sozialdienst katholischer Frauen, dessen Förderung am Jahresende ausläuft.

Ziel des neuen Gesamtkonzepts ist, stadtweit niedrigschwellige Unterstützungsangebote für Familien bereitzustellen – nicht nur in allen Geburtskliniken, sondern auch in der Zeit danach. Prinzipiell richtet sich das Angebot an alle Familien – normale, belastete und akut gefährdete. Die Grundlage für ein solches differenziertes und gut vernetztes Angebot einzurichten ist nicht nur das Eigeninteresse der Stadt. Überdies besteht ein gesetzlicher Auftrag dazu.

Flächendeckender Kinderschutz ist ein gesetzlicher Auftrag

Seit dem Jahr 2012 verlangt das Bundeskinderschutzgesetz von den Kommunen, dass sie flächendeckend verbindliche Netzwerke im Kinderschutz und bei den frühen Hilfen auf- und ausbauen. Allerdings lässt das Gesetz Raum für Interpretationen. Pfeifle übersetzt das folgendermaßen: „Ihr müsst gute Hilfen vorhalten. Aber was gute Hilfen sind, hängt letztendlich vom Stadtsäckel und vom Willen der Gemeinderatsfraktionen ab.“ Für die Verwaltung ist der Fall im Vorfeld der Haushaltsberatungen klar: „Wir mussten die Haushaltsvorlagen priorisieren“, so Pfeifle. „Für uns ist diese die wichtigste.“