Die Gefahr ist groß, dass es zu einem neuen Krieg in Europa kommt. Was treibt die Handelnden in Moskau, Kiew oder Berlin an? Die fünf wichtigsten Fragen und Antworten.

Truppenaufmarsch, Kriegsangst, Krisendiplomatie: Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ist zum Zerreißen angespannt. Doch worum geht es im Kern? Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Ukraine-Konflikt.

 

Warum die Ukraine?

Das Land ist seit den proeuropäischen Maidan-Protesten 2014 der Ost-West-Hotspot schlechthin. Damals trieben die Aufständischen den korrupten kremltreuen Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Land. Als Reaktion annektierte Moskau die Krim. Im Donbass entfesselten prorussische Separatisten einen Krieg, der bis heute anhält und 14 000 Tote gefordert hat. All das ließ in der Ukraine das Pendel endgültig nach Westen ausschlagen. Die Menschen fordern die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit. Diese demokratischen Prozesse sind für den russischen Präsidenten Wladimir Putin eine Provokation. Zumal das Recht auf Selbstbestimmung auch einen möglichen Beitritt zu Nato und EU einschließt.

Was will Putin in der Ukraine?

Wladimir Putin fürchtet den Kontrollverlust des russischen Staates. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Massenproteste in Kiew 2004 , die „Revolution in Orange“, die Moskau als US-gesteuert einstufte. Als im Jahr 2012 in Russland Zehntausende Menschen gegen Putins Herrschaft demonstrierten, ließ er die Revolte kurzerhand niederknüppeln. Seither setzt der Kreml alles daran, den Aufbau einer westlich orientierten Demokratie in der Ukraine zu verhindern. Dies gilt umso mehr, als Putin dem Nachbarland eine eigene Kultur abspricht. In einem Essay schrieb er im Sommer, die Ukraine sei „Teil der großen russischen Nation“. Historisch ist das jedoch in keinem Fall haltbar. Dennoch wäre es für viele Russen eine nationale Schmach, ginge Kiew, die Wiege der orthodoxen Christenheit, jetzt an den Westen verloren. Im Umkehrschluss wäre eine „Rückholung der Ukraine“ eine Leistung, die Putin auf jeden Fall einen Platz in den russischen Geschichtsbüchern sichern würde.

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Aber geht es zwischen West und Ost nicht um viel mehr?

Ja. Denn die historisch-kulturellen Fragen sind nicht von geopolitischen und militärischen Überlegungen zu trennen. Zentral sind dabei die Nato-Osterweiterungen seit 1999. Russland hat wiederholt erklärt, dass es sich vom Heranrücken der Allianz an seine Grenzen bedroht fühlt. Mit einem Nato-Beitritt der Ukraine wäre die rote Linie des Kremls überschritten. Vor Weihnachten übermittelte Russland zwei Vertragsentwürfe an die USA und die Nato, mit denen nicht nur neue Osterweiterungen ausgeschlossen werden sollen. Der Kreml verlangt auch einen Rückbau der militärischen Infrastruktur in Ostmitteleuropa. Der Westen beharrt auf dem Recht der freien Bündniswahl, ist aber bereit, über Abrüstung und Sicherheitsgarantien für Russland zu verhandeln. Als Königsweg gilt Fachleuten ein neutraler Status der Ukraine, zumal ein Nato-Beitritt wegen der ungeklärten Territorialfragen auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist. Die Bereitschaft, sich für neutral zu erklären, müsste aber aus Kiew kommen. Das ist nicht in Sicht.

Warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt?

Die Strategen im Kreml kalkulieren mit Stärken und Schwächen. Da ist zunächst der Niedergang des Westens. In den USA hat die Trump-Präsidentschaft ein tief verunsichertes, gespaltenes Land zurückgelassen. Der desaströse Abzug aus Afghanistan hat zudem Schwächen des US-Militärs und der Nato-Verbündeten offenbart. Noch kraftloser wirkt die EU nach dem Brexit. Der Dauerstreit mit Polen und Ungarn lähmt die Union. Auf der anderen Seite hat Putin die Opposition im eigenen Land ausgeschaltet. Er ist unangefochten, und die hohen Energiepreise haben viel Geld in die Staatskassen gespült.

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Nicht zuletzt hat sich die russische Armee unter Putin in eine hochgerüstete, äußerst schlagkräftige Truppe verwandelt. Allerdings weiß der Kremlchef auch um die strukturellen Schwächen Russlands. Der Wirtschaft fehlt jede Dynamik, das fossile Zeitalter endet. Schließlich ist da die Ukraine, die zusehends an Stärke und Geschlossenheit gewinnt. Viel spricht deshalb dafür, dass Putin seine Stunde jetzt gekommen sieht. Zumal er sich 2024 einer Wiederwahl stellen muss.

Welche Rolle spielt Deutschland?

Auf die Regierung in Berlin prasselt von allen Seiten Kritik ein. Die Ukraine ist enttäuscht, dass Deutschland keine Waffen liefert, einen Nato-Beitritt des Landes ablehnt und an Nord Stream 2 festhält. Ähnlich sehen das viele östliche EU-Staaten. Auch in den USA hat Präsident Joe Biden alle Mühe, die Bundesregierung von Olaf Scholz als verlässlichen Partner zu verteidigen. Der Kreml hat Deutschland ebenfalls als Achillesferse des Westens ausgemacht. Dabei setzt Moskau auf russlandfreundliche Kräfte im Land, vor allem in der SPD. Aber auch der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft hat in Berlin traditionell eine starke Stimme. All das spielt sich vor dem Hintergrund einer äußerst wirkmächtigen Geschichte ab. Die historische Linie reicht vom Vernichtungskrieg der Wehrmacht in der Sowjetunion über Willy Brandts Ostpolitik (Wandel durch Annäherung) bis zu Michail Gorbatschows Zustimmung zur Wiedervereinigung. Komplizierter kann eine außenpolitische Lage kaum sein.