Fünf Jahre nach dem Erdbeben in L’Aquila kommt der Wiederaufbau der Region endlich richtig in Gang. Korruption und Streit haben vorher alle Anstrengungen gelähmt.

L’Aquila - Neunundfünfzig Meter“, murmelt der Lastwagenfahrer und filmt mit seinem Handy hinauf in den Abendhimmel. „Was, 59 Meter?“ „Na, da oben! So hoch ist der Kran-Ausleger, den die Kollegen da montieren!“ Weit über allen Häusern turnen zwei kleine Gestalten in dem gelben Stahlgestänge herum, unten fängt der massige Hilfskran wieder an zu lärmen, der das Dutzende Meter lange Teil soeben in die Höhe gezogen hat, unter beträchtlichem Dieselqualm und zentimetergenau über den engen Gassen von L’Aquila, die kaum breiter sind als der Kran selber. „Aber wie haben Sie alle die Monster-Gerätschaften in diese verwinkelte Altstadt hereinbekommen?“ Da grinst der Lastwagenfahrer nur und filmt weiter.

 

Baukräne sind das neue Symbol von L’Aquila, fünf Jahre, nachdem das große Beben die Altstadt zum Einsturz gebracht, an die 70 000 Menschen obdachlos gemacht und 308 Menschen im Schlaf erschlagen hat. Symbolisch ist auch der winzige Platz, über dem der neue Kran schwebt: Da stehen die Reste einer mittelalterlichen Marienkirche, die 1703 schon einmal ein Erdbeben überlebt hat, jetzt aber für einen Wiederaufbau zu beschädigt und für einen Abriss zu wertvoll ist. Da wird energisch an einem barocken Palazzo gearbeitet, an dem die russische Fahne weht, weil Moskau als Spende an Italien die Restaurierung bezahlt. Und da sinkt eine andere historische Fassade immer mehr in sich zusammen: Seit fünf Jahren hält sie, wie praktisch alle Gebäude im Zentrum der Stadt, ein Korsett aus Balken, Bändern und Stahlträgern aufrecht, aber weil hinter den Fensterhöhlen nichts mehr ist, weil Frost und Regen und Wind freies Spiel haben, zerbröselt das Mauerwerk.

2009 lockte Silvio Berlusconi die G8 in die Region, darunter Barack Obama. Foto: ANSA

„Jetzt gehen die Arbeiten in der Stadt wenigstens los“, sagen zwei ältere Frauen, die das Beben aus ihren Häusern vertrieben hat. Sie wollen sich bei einem Spaziergang den Kran und die „uns fremd gewordene Innenstadt“ anschauen: „L’Aquila hat sein Herz verloren. Wir Bürger treffen uns seit fünf Jahren nicht mehr in unserem Stadtzentrum, sondern in den Einkaufszentren drum herum. Die sehen aus wie überall auf der Welt. Unsere Kinder wachsen ohne Wurzeln auf.“

Szenenwechsel: Giustino Parisse steht auf einem kleinen Fleck Terrakotta-Fußboden, um ihn herum wuchert dorniges Gestrüpp. „Hier war vor fünf Jahren meine Küche“, sagt der Chefredakteur der örtlichen Tageszeitung „Il Centro“, der in der Nacht zum 6. April 2009 seine beiden Kinder und seinen Vater verloren hat. Von Parisses zweistöckigem Haus in Onna, dem kleinen Vorort von L’Aquila, ist nichts übrig außer ein paar verwitternde Balken und, darunter vom Regen durchtränkt, der letzte Stoffelefant aus dem Kinderzimmer.

Giustino Parisse hat viel verloren. Foto: Kreiner

Der Ortskern von Onna sieht aus wie am Tag nach dem Beben: eine Schutthalde. Zwar leben die 300 verbliebenen Einwohner heute in vergleichsweise schmucken, bunten, provisorischen Holzhäuschen gleich daneben; zwar hat Deutschland, das sich wegen eines Nazi-Massakers von 1944 diesem Dörfchen gegenüber in der Pflicht sieht, ein elegantes Gemeindezentrum hingestellt und den Wiederaufbau der achthundertjährigen Dorfkirche auf der Piazza bezahlt. „Das geht auch sehr gut voran“, sagt Parisse, „aber wenn die Kirche wieder steht – was steht dann drum herum? Das blanke Nichts.“ Dabei hat Onna schon vor drei Jahren einen Plan für den Wiederaufbau vorgelegt. Doch abgesehen davon, dass der Staat damals noch kein Geld hatte, „gibt es bis heute noch kein Konzept für die Strom-, Gas- und Wasserversorgung“, sagt Parisse. So ist alles hängen geblieben. In den anderen 55 Dörfern des Bebenkraters sieht es ähnlich aus: Erst 37 haben ihren Plan für den Neuaufbau vorgelegt und vom Staat genehmigt bekommen. „Sieben, acht Jahre“, schätzt Parisse, wird der Aufbau des winzigen Onna noch dauern, „in den anderen Orten eben noch viel länger.“

In einem Neubaugebiet von L’Aquila, tagtäglich von Hunderten Bürgern bestürmt, leitet Paolo Aielli das „Spezialbüro für den Wiederaufbau“. Dass es mit dem historischen Stadtzentrum erst jetzt vorangeht, sagt er, „liegt daran, dass erst seit 2013 Geld vom Staat fließt.“ Zwar hat die Regierung schon vorher zehn Milliarden Euro ausgegeben: für die Sicherungsmaßnahmen und für den Bau von 19 „New Towns“, in denen – überstürzt und „zu 158 Prozent über dem normalen Marktpreis“, wie der EU-Rechnungshof rügt – mehr als 26 000 Bürger untergebracht wurden. Der Rest floss in die Restaurierung von leicht oder mittel beschädigten Gebäuden an den Rändern von L’Aquila; dort läuft heute das Leben beinahe im Normalbetrieb.

Einige Stadträte sind der Korruption angeklagt

Das Zentrum aber, wo von einst 900 Geschäften und Lokalen nur dreißig bis vierzig geöffnet haben und wo von einst zehntausend Bewohnern nur ein paar Dutzend zurückgekommen sind – ist eine Geisterstadt geblieben. „Widerstreitende Interessen“, sagen sie alle in L’Aquila, waren daran schuld. Die 2009 allmächtige Zivilschutzbehörde, die es damals sogar schaffte, den G-8-Gipfel nach L’Aquila zu holen und damit die Welt auf die Tragödie aufmerksam zu machen – sie krachte zusammen unter den Vorwürfen von Bestechlichkeit und Mauschelei bei der hastigen Vergabe ihrer milliardenschweren Bauaufträge.

Danach waren sich der linke Bürgermeister und der aus Rom gesandte „Sonderkommissar“, der rechte Regionalpräsident, nicht grün: Für L’Aquila fanden sie kein Konzept. Derweil verfolgten Baukonzerne, Kriminelle und ein Netz von Familien in der Stadt ihre eigenen Interessen; es war – sagt die Staatsanwaltschaft und hat dafür einige Stadtväter festgesetzt – auch Bestechung im Spiel. Seit einem Jahr aber, sagt Paolo Aielli, sei alles anders. Er zeigt auf den Stadtplan in seinem Büro, auf dem es keine weißen Flecken mehr gibt. Nur gelb, orange, grün markierte Gebäudegruppen: Stadien der Bearbeitung. Auch schon einzelne dunkelgrüne: „Restaurierung abgeschlossen.“

308 Menschen starben bei dem Erdbeben. Foto: Tersigni/Eidon/ROPI

Es war die Techniker-Regierung von Mario Monti, die Staat und Stadt zusammenbrachte. Seither hat der 55-jährige Aielli, zuvor Manager beim staatlichen Elektronik-, Flugzeug- und Waffenkonzern Finmeccanica, sein gut 70-köpfiges „Spezialbüro“ aufgebaut. Seitdem fließt das Geld: Hundert Millionen Euro bewilligt er jeden Monat für den privaten Wiederaufbau. „Endlich gibt’s ein von allen für gut befundenes und kontrollierbares Projekt“, sagt Aielli. „Erstmals haben wir alle Anträge auf dem Tisch, so dass wir die Gesamtkosten überschauen können.“ Und beim Finanzministerium, ergänzt der drahtige Manager, habe sich das Büro einen so guten Ruf erworben, „dass wir auch schon das Geld für 2015 und 2016 ausgeben dürfen.“

Doch auch die werden bereits im Juni aufgebraucht sein. Und dann? „Ja dann“, sagt Aielli und will damit all denen in L’Aquila entgegentreten, die einen jähen Abbruch der Arbeiten befürchten, „dann gibt es schon Ideen für 500 oder 600 Millionen Euro neuer Mittel“, staatlicher Mittel. Eine Selbstbeteiligung privater Bauherren ist nicht vorgesehen, „es existiert nicht mal eine Prozedur dafür“, sagt Aielli: „Aber wir müssen es zumindest hinkriegen, dass Private auch mal Geld vorstrecken.“

Es gibt genügend Gerüchte und Beispiele in L’Aquila, dass Hausherren Restaurierungen, die sie vor dem Beben unterlassen haben, nun auf Staatskosten nachholen oder zuvor unbewohnbare Altbauten wie Ställe oder Heuschober in den Dörfern vom Staat in Wohnhäuser modernen Standards umwandeln wollen. Auch deswegen sagt Aielli, streiche sein Büro die beantragten Summen um durchschnittlich ein Sechstel zusammen, „manchmal sogar um fast die Hälfte“. Und er habe „selbst bei einer Kürzung um 25 Prozent“, noch keinen gesehen, der sein Projekt aufgegeben hätte.

Aber wann wird L’Aquilas historisches Zentrum wieder erblühen? „In fünf Jahren“, sagt Aielli. Wäre ein schönes Zusammentreffen: für 2019 hat sich L’Aquila um den Titel einer „Europäischen Kulturhauptstadt“ beworben. Vielleicht bleiben dann auch die Aquilaner da. Mehr als 4300 sind seit dem Beben schon weggezogen, Trend vorerst nicht zu stoppen.