In Necati Öziris „Vatermal“ erzählt ein junger Mann seinem abwesenden Vater von großen Sorgen, kleinen Träumen und dem Warten, „bis das scheiß Leben endlich anfängt“. Ein Roman voller Wehmut und Poesie.

Wenn Deutsche einen nach der Herkunft fragen, wollen sie einfach nur Türkei hören. „Aber wenn Türken einen fragen, muss man immer die Stadt des Vaters sagen, auch wenn man selbst noch nie dort war.“ Necati Öziris für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „Vatermal“ tastet danach, wie man ohne Vater die eigene Geschichte erzählt.

 

Arda liegt auf der Intensivstation. Seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin besuchen ihn, doch vermeiden sie es, sich zu begegnen. Öziris Roman erzählt von Familie, ohne ein Familienroman zu sein. Die Geschichte von Ardas Familie lässt sich nicht gemeinsam erzählen, sondern nur auf verschiedenen Zeitebenen und in getrennten Linien. Sie laufen unabhängig, entfernen sich voneinander.

Da ist die Geschichte von Ümran, die ihre Studienträume gegen einen Job bei McDonalds und ihre Jugendliebe gegen Ardas Vater eintauschen musste. Die von Aylin, die von zuhause wegläuft und in einer „wirklich ganz, ganz ordentlichen“ Pflegefamilie unterkommt. Die von Arda selbst, von einer Kindheit gegenüber von Wackeldackeln und einer Jugend auf Beton.

Leben ohne Vater

Und schließlich die von seinem Vater, mit so vielen offenen Fragen. Früh hat er die Familie verlassen. Seinem Sohn hat er nur den Leberfleck unter dem linken Auge geschenkt. „Vatermal“ ist ein Brief an seinen „baba“. „Wie sagt man ‚Papa’, ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist?“ Schwerkrank erzählt ihm Arda als junger Mann von der Familie, die er zurückließ und von der Leere, die bleibt.

In seiner Jugend ergründet Arda, wie man ohne Vater zu einem Mann wird. Wenn man niemanden hat, der einem beibringt, „wie man mit der Gewalt, die in einem schlummert, umgeht“, „wie man sich nicht schämt für seine behaarten Finger“ und „wie man später seinem Kind ein Vater wird.“ Er wartet auf Fernsehwerbungen mit sich räkelnden Frauen, erlebt aggressive Ehemänner und weinende Freunde. Was bedeutet das überhaupt – ein Mann sein?

Beton und Sehnsucht

Arda muss seinen Weg allein finden. Mit seinen Freunden Danny, Bojan und Savaş hängt er am Bahnhofsplatz ab. Alles dreht sich um Hip-Hop, Joints und die heiße Susanna – dem „Grund für die menschengemachte Erderwärmung“. Die Jungs vereint die Jugend ohne Vater und die Sehnsucht, den Beton hinter sich zu lassen. Sie hören Kool Savas: „Du bist jung und alles ist in Hektik um dich herum und dein Kopf ist gefickt, doch du bist im Grunde frei und gesund und kannst entscheiden, wohin es geht, was du gerne mal wärst.“ Arda will „was mit Literatur machen“. Er verspricht Bojan, dass er von ihm schreiben wird – und wird dies einhalten.

Doch die Jugend muss enden. Danny wird zu jung Vater, Bojan abgeschoben, Savaș geht zurück in die Türkei. „Vatermal“ ist der wehmütige Rückblick auf ein Leben, das noch gar nicht angefangen hat. Unsentimental schwelgt der Roman im Verlorenen.

„Officially Kartoffel“

Die Traurigkeit im Roman erdrückt nicht. Dies verhindert unter anderem das augenzwinkernde Porträt deutscher Biederkeit. Auf dem Schreibtisch des Beamten in der Ausländerbehörde steht ein Wackeldackel und ein Familienfoto, auf dem alle aussehen „wie Kürbisse, auf die jemand mit einem Edding ein breites Grinsen gemalt hat“. Eine ähnliche Drohkulisse bieten die drei Sorten Käse und die personalisierten Eierbecher auf dem Frühstückstisch in Aylins Pflegefamilie. Als Arda mit 18 endlich den Ausweis mit dem „fucking Adler“ erhält, ist er selbst „officially Kartoffel“.

Der Autor Necati Öziri ist Sohn türkischer Eltern und wuchs bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Er verfasst Theaterstücke und Erzählungen, „Vatermal“ ist sein Debütroman.

Der Roman berührt tief und ist doch erfüllt von der Leichtigkeit, die der Jugend auch zwischen Beton und Ladendiebstahl innewohnt. Die Jugend ist das Glück eines Spätsommertages, „wenn man sich eigentlich schon darauf eingestellt hat, den ganzen scheiß Winter vor der Playsi zu hocken, es dann aber noch mal so richtig warm wird“. In einem Roman voller verwehrter Liebe leuchtet die Röte auf Danny Schläfen, immer wenn er an Susanna denkt, die Freundschaft der Jungs, und der Löwinnenkampf Aylins für ihren Bruder umso heller.

Für Wärme sorgt auch die Sprache des Romans. Türkische Wörter und Kosenamen fließen ein, ganz natürlich, nicht um Authentizität zu erzwingen, sondern um Poesie einzufangen: „Aslan kızım benim“ bedeutet „Mein Löwenmädchen“. „Vatermal“ ist große deutsche Literatur.

Necati Öziri: Vatermal. Claasen, Berlin. 304 Seiten, 25 Euro.