Das Toreschießen will bei dieser EM nicht so recht klappen. Dreimal 0:0 in den letzten Abendspielen. Unser EM-Reporter Thomas Näher hofft auf Besserung!

Lyon - Auf der Tribüne in St.-Étienne ist uns am Montagabend mitten im Spiel Sepp Herberger selig erschienen. In Gedanken natürlich nur, aber das war allemal aufregender als das Treiben auf dem Rasen, wo beide Mannschaften uns genügend Muße ließen, um das Kopfkino anzuwerfen. Und wie wir so vor uns hin träumten, hörten wir plötzlich die Stimme des deutschen Weltmeistertrainers von 1954, der einst den weisen Satz formuliert hat: „Die Leute gehen deshalb zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie das Spiel ausgeht.“

 

Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass England eines Tages auf die Slowakei trifft.

Als die Boys von der Insel auch den 17. Schuss am gegnerischen Tor vorbeigesemmelt hatten, war dem halben Stadion klar: Das wird nichts. Die andere Hälfte waren Engländer, die sich partout weigerten, vom Glauben an ein Wunder abzufallen, das natürlich nie eintrat. Am Ende gewann England mit 27:4 – nach Torchancen. Nur die Videotafel blieb bis zum Ende der Nachspielzeit bei 0:0 stehen.

Dass dieses Glücksspiel mit lauter Nieten den einen oder anderen in den Schlaf wiegte – wen wundert’s? In der Ehrenloge jedenfalls konnte Angel Maria Villar irgendwann nicht mehr sich halten. Der Spanier ist nicht irgendwer, sondern der Vizepräsident der Europäischen Fußball-Union (Uefa), die uns dieses Turnier als aufrüttelndes, an spielerischer Virtuosität nicht zu übertreffendes Spektakel verkaufen will. Doch dazu gehören eben auch Tore. Die fielen nicht, dafür fiel Villars Kopf – und zwar in einer abrupten Bewegung nach unten – weg war er. Einfach eingeschlafen. Das gab erst recht ein unvorteilhaftes Bild für ihn ab, weil sein Nebenmann noch prominenter war als er selbst. Zum Glück hatte Englands Kronprinz William aber kein Auge dafür, weil er gerade sein Fitnessprogramm für diesen Tag nachholte. Ekstatisch sprang er in die Höhe, sobald sich ein Engländer dem Tor näherte – und ließ sich entnervt nach jedem Fehlschuss wieder fallen.

Mein Nebenmann war übrigens nicht so prominent. Genau genommen kannte ihn womöglich im ganzen Stadion kein Mensch, was er dadurch kompensierte, dass er mit seiner Frau und seiner Tochter via Skype Kontakt hielt, wenn er nicht gerade live das Spiel für seinen Radiosender kommentierte. Er tat dies mit einer Eindringlichkeit und Lautstärke, die uns keine Chance zum Wegnicken ließ. Danke, unbekannter Gönner!

Gegenüber dem Reporter aus Stuttgart hatte der oben erwähnte William den Vorteil, dass er sich alsbald in einem nahe gelegenen Viel-Sterne-Hotel von den seelischen und körperlichen Strapazen dieses Abends erholen konnte. Der Chronist dieser Zeitung hatte noch 300 Kilometer Autobahnfahrt vor sich, um sein Quartier in Aix-en-Provence zu erreichen. Um Mitternacht lassen sich gewiss vergnüglichere Unternehmungen vorstellen, zumal sich ein gewisser Frust nicht leugnen ließ: England – Slowakei war schon das dritte Abendspiel in drei Tagen, das ziemlich unbefriedigend geendet hatte. Tags zuvor war die Schweiz auf Frankreich getroffen – 0:0. Und am Samstag hatten sich Portugal und Österreich auf das gleiche Ergebnis geeinigt. Himmel hilf: Ein Tor muss her. Irgendwie, irgendwo, aber rasch!

Womöglich lag der entscheidende Fehler ja bei uns selbst. Die Planung für so ein Turnier beginnt schon Monate vor dem ersten Anpfiff, und das erste Studium gilt den Teilnehmern und den Paarungen, die Attraktivität und Spannung versprechen und deren Austragungsort den Tachostand nicht ins Unermessliche treiben – knapp 4000 Kilometer sind zur Hälfte des Turniers trotzdem zusammengekommen. Also Städte, die 30 Kilometer (Marseille), 200 Kilometer (Nizza) und 300 Kilometer (Lyon, St.-Étienne) von unserem Standort entfernt sind. Und gut, das 3:0 der Spanier gegen die Türkei war ebenso dabei wie Italiens 2:0 gegen Belgien, da wollen wir mal nicht klagen. Aber jetzt – 0:0, 0:0, 0:0, lauter Nullen. So war das nicht vorgesehen, Leute! Mal davon abgesehen, dass uns auf der Rückfahrt ein Blitzer erwischt hat, der dritte seit Turnierbeginn. Wir müssen echt aufpassen jetzt.

Also schon heute Abend, auf dem Weg nach Nizza: Schweden gegen Belgien. Wir hoffen, zittern und bangen: Herr, lass endlich Tore fallen, wenigstens eines, ein kleines, ein klitze-klitze-kleines.