Der Kapitän des Weltmeisters zeigt bei seinem Kurzeinsatz gegen die Ukraine, dass man ihn nicht zu früh abschreiben sollte – nicht nur wegen seines Treffers zum 2:0-Endstand.

Lille - Schon kurz hinter der Torauslinie erhebt sich im Fußballstadion von Lille die Westtribüne, auf der die Leute am Sonntagabend um kurz vor elf jubelnd auf ihren Plätzen stehen. Es gibt keine Laufbahn und auch kein Marathontor, sonst wäre Bastian Schweinsteiger vor lauter Überschwang einfach weitergerannt, unaufhaltsam wie Forrest Gump. So aber muss er, nachdem er vom einen Tor zum anderen gesprintet ist, irgendwann anhalten. Gut so, er ist schließlich in einem Fußballalter, in dem man mit seinen Kräften haushalten sollte. „Der Weg nach dem Jubel war lang“, sagt der 31-Jährige wenig später, „ich bin ein bisschen außer Atem.“

 

In der Nachspielzeit des EM-Auftaktspiels gegen die Ukraine war Schweinsteiger das erlösende 2:0 gelungen. Von links hatte Mesut Özil den Ball scharf vors Tor gebracht, der Kapitän stand völlig frei und hielt den Fuß hin, seine Direktabnahme landete unter der Latte. Es war ein typisches Kontertor am Ende eines Spiels, das letzte Zweifel am Sieg beseitigte. Doch bedeutete es viel mehr als nur einen schnöden Schlusspunkt. Es war der große emotionale Moment, der dem glanzlosen Arbeitssieg eine spektakuläre Pointe verlieh.

Die gesamte Mannschaft huldigt dem Kapitän

Momente wie diese sind es, die im Fußball und speziell bei großen Turnieren ungeahnte Energien freisetzen können. „Das gibt viel Auftrieb“, sagte der Bundestrainer Joachim Löw. Für die gesamte deutsche Mannschaft gilt das, die nach diesem Tor geschlossen ihrem Kapitän huldigte. Von der Bank sprangen die Ersatzspieler auf und klatschten, es gab nicht einen, der dem sprintenden Kapitän nicht zugejubelt hätte. „Wir freuen uns alle mit ihm“, sagte der Abwehrchef Jérôme Boateng, „jetzt hoffen wir, dass er bald noch fitter wird.“

Sie ist durchaus berechtigt, diese Hoffnung. Denn noch bedeutsamer als für die Mannschaft ist der Moment für Schweinsteiger selbst; wichtiger als jede zusätzliche Konditionseinheit sein Tor, weil es im Fußball nicht allein auf die Physis ankommt, sondern auch auf eine stabile Psyche. Als eine Art Befreiung dürfte er seinen Treffer aus der Kategorie Solche-Geschichten-schreibt-nur-der-Fußball empfinden, als Initialzündung, die ihn beflügeln und durch das Turnier tragen könnte. „Unglaublich, dass es so etwas gibt“, sagte er, „das kann man sich nur wünschen.“

Schweinsteiger hat sich zuletzt nichts anmerken lassen – er hat sie aber sehr wohl wahrgenommen, die großen Zweifel an seiner Person. Nicht allein die lange Verletzungspause nach den beiden Innenbandrissen im Knie ist im Laufe der Vorbereitung thematisiert worden, sondern auch sein Alter und sein Bauchumfang, bisweilen unverhohlen belächelt. Gesagt hat er nichts dazu, nach dem Spiel. Er überließ es seinem älteren Bruder Tobias, Jugendtrainer des FC Bayern, via Twitter Genugtuung kundzutun, es wieder einmal allen gezeigt zu haben: „Zu alt! Zu schwer! Zu langsam! Zenit überschritten! – Boooooom.“ Man solle den Kapitän „niemals abschreiben“.

Seit der WM 2014 genießt Schweinsteiger Kultstatus

Das weiß auch Joachim Löw, für den es von nachrangiger Bedeutung gewesen ist, wer als Vertreter von Schweinsteiger die Spielführerbinde bekommt. Gegen Sami Khedira und für Manuel Neuer entschied sich der Bundestrainer und stellte gleichzeitig klar, dass es nur einen Kapitän gebe – Schweinsteiger. Es freue ihn sehr, sagte Löw, „dass er nach der Schufterei der vergangenen Wochen und Monate so ein tolles Comeback gefeiert hat“.

Wenige Minuten dauerte dies nur, mehr als ein Reservist wird Schweinsteiger auch am Donnerstag (21 Uhr) gegen Polen nicht sein. Wichtig ist er trotzdem noch für die Nationalelf – als Persönlichkeit und Führungsfigur, die den Gegnern Furcht einflößt, den Mitspielern einen Schub verleiht und die Fans zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Schon bei seiner Einwechslung schwappte ihm in Lille eine Welle der Sympathie entgegen – völlig aus dem Häuschen waren die Leute bei seinem Tor. Ein Volksheld mit Kultstatus ist Schweinsteiger seit der WM 2014, vor der er ebenfalls lange verletzt war und im Finale doch maßgeblichen Anteil am Titel hatte. Die Platzwunde unter dem Auge des Kapitäns ist eines der Bilder, die vom Triumph in Rio in Erinnerung geblieben sind. Mit dem entfesselten Jubelsprint von Bastian Schweinsteiger hat nun auch die EM in Frankreich Bleibendes geliefert – und das schon nach dem ersten Spiel.