Das ukrainische Volunteer-Programm der Fußball-Europameisterschaft zielt auf Studenten ab - die helfen, weil sie unter Druck stehen.  

Kiew - Auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz in Kiew erstrahlt schon seit dem 19. Dezember eine 40 Meter hohe Kunsttanne. Der Schmuck an dem Baum trägt unter anderem jene Symbole, die für das Land 2012 so wichtig sind: Drachen als Glücksbringer für die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft. Doch wenn nun in der Ukraine das Weihnachtsfest nach orthodoxer Tradition am 6. Januar über zwei Wochen gefeiert wird, dann hegen vor allem viele Studenten gemischte Gefühle. Sie blicken mit Skepsis auf das neue Jahr. Einige haben Angst, wegen der EM ihren Studienplatz zu verlieren.

 

Hintergrund ist die nicht unumstrittene Rekrutierung der Volunteers; jener unverzichtbaren Schar unentgeltlich arbeitender Helfer, die mittlerweile jede Großveranstaltung erst möglich machen. Sie stellen Akkreditierungen aus oder leisten den Fahrdienst, weisen den Weg oder lächeln VIP-Gäste an. Allein die Uefa benötigt 5500 Freiwillige, die je zur Hälfte in Polen und der Ukraine eingesetzt werden. Ferner haben die Ausrichterstädte noch einen gewaltigen Bedarf an Helfern, die neben guten Englischkenntnissen noch Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit sowie günstigenfalls Kenntnisse im Krisenmanagement mitbringen sollten. In der Ukraine werden etwa 14.000 Freiwillige gesucht, 6000 in der Hauptstadt Kiew. Das Problem: anders als im Westen ist ehrenamtliche Arbeit in diesem Teil Osteuropas nahezu unbekannt. Ergo ist eine millionenschwere Werbekampagne seitens der Uefa angelaufen.

Auswahlgespräch via Skype

Der Box-Weltmeister Vitali Klitschko forderte seine Landsleute auf: "Ich weiß, dass viele von der EM ein Wunder erwarten, aber es wird nicht passieren, wenn wir nicht alle unseren Teil dazu beitragen." Auf die offizielle Uefa-Ausschreibung gab es nun die Zahl von 23.965 Bewerbungen, rund 90 Prozent stammen aus der Ukraine und aus Polen. "Ein absoluter Rekord. Durchschnittlich kommen 6,5 Personen auf eine Stelle", schwärmte der ukrainische Turnierdirektor Markijan Lubkiwski.

Einige Auswahlgespräche haben via Skype stattgefunden, Anfang des neuen Jahres starten in Kiew die ersten Vorbereitungskurse. Doch vielleicht haben sich manche auch gar nicht ganz freiwillig gemeldet, das berichten ukrainische Medien. Katharina, eine Studentin aus Kiew, sagte: "Uns wurde von der Institutsleitung mitgeteilt, dass sich die höheren Jahrgänge mit ausreichend Sprachkenntnissen bewerben sollen." Als Begründung wurde angegeben, dass der Dienst sich auf die Beurteilung an der Universität und im weiteren Lebenslauf positiv auswirken würde, erzählte die 22-jährige Studentin.

Studentenwohnheime für Touristen räumen

Den 21-jährigen Viktor stört noch was anderes. "Für die EM ist demnächst auch jeden Samstag Uni. Im Sommer sollen wir unsere Plätze im Studentenwohnheim räumen", beschwert er sich. Bereits im Mai ist das Semester zu Ende, die meisten Studenten sollen ihre Unterkünfte dann verlassen, weil die Zimmer für die Touristen gebraucht werden.

Endgültig konterkariert wird das angeblich so weltoffene und fröhliche Volunteer-Programm durch Berichte, dass die Studenten von der Universitätsleitung unter Druck gesetzt werden, die Renovierung ihrer Schlafsäle selbst zu bezahlen. Studierende der journalistischen Fakultät der Taras-Schewtschenko-Universität sagten, dass sie mit Strafe bedroht wurden - einschließlich etwaiger Räumung. So wurde von jedem Student ein Eigenanteil zur Renovierung der spartanischen Mehrbettzimmer mit Etagendusche und Gruppenküche von bis zu 70 Euro gefordert. "Die Leute haben Angst, von der Uni zu fliegen", sagte ein Student der Zeitung "Ukraina Moloda".

Dauerhafte Vermietung an Touristen?

Eine Studentin äußerte noch einen anderen Verdacht: "Danach werden die Studentenunterkünfte wohl dauerhaft an Touristen vermietet", vermutet sie. Vor allem die Wohnheime in zentraler Lage böten sich an: Die chronisch unterfinanzierte Hochschule und die hochverschuldete Stadt Kiew hätten damit eine neue Einnahmequelle. Wie in der Ukraine üblich, reagierten die Verantwortlichen auf die Veröffentlichungen verschlossen. Die Hochschulleitung bezeichnete die Berichte als "absurd".

Fest steht, dass in der Ukraine die Fußballfans mehr denn je auf die Hilfe von freiwilligen Helfern mit Sprachkenntnissen angewiesen sind. Für Fremde ist es nicht einfach, sich im ukrainischen Straßenbild mit den Beschriftungen in kyrillischer Sprache zurechtzufinden, und wer Einheimische in englischer Sprache nach dem Weg fragt, wird ignoriert. Nikolai Vorobiow, Koordinator des Volunteer-Internetportals, verspricht: "Die Volunteers werden an allen strategisch wichtigen Stellen stationiert." Wenn wohl auch nicht ganz freiwillig.