Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

In der DFB-Studie heißt es: „Die Nationalmannschaft schafft einen sozialen Mehrwert für die Gesellschaft, indem sie integrierende Wirkung entfacht und für verbindende Gemeinschaftserlebnisse der Nation sorgt“, schreiben die Wissenschaftler. 95 Prozent der Befragten sehen das Auftreten von Joachim Löws Elf als vorbildlich an, 90 Prozent bezeichnen sich als große Fans. Zusätzlich, so die Wissenschaftler, würde das Team maßgeblich zur Integration ausländischer Mitbürger beitragen. Es könne gar als „vierte Gewalt“ im Staat bezeichnet werden, lautet eine der Thesen der Studie. Judikative. Legislative. Exekutive. Nationalmannschaft? Nun ja, man könnte in diesem speziellen Fall auch Hybris attestieren.

 

Oliver Bierhoff sieht das nicht so: „Die Nationalelf ist quasi die vierte Macht im Staat“, sagt der Teammanager der Nationalmannschaft. Bierhoff und Co. haben die Rolle als Aushängeschild und größter gemeinsamer Nenner dieses Landes gerne angenommen. Die Rolle als Corporate Identity der BRD, als Identität einer Nation, die sich doch so lange schwertat mit Nationalstolz und den Symbolen dieses Landes. Auch hier war die DFB-Elf tatsächlich einer der Katalysatoren für einen unverkrampfteren Umgang mit Fahnen und dem Schwarz-Rot-Gold dieses Landes: Spätestens seit der Heim-WM 2006 sind die Farben dieser Republik eine Selbstverständlichkeit, auch wenn es wohl oft mehr eine Art Party-Patriotismus sein mag.

Der Fußball hat Kraft. Große Kraft. Er ist in der Lage, gesellschaftliche Debatten zu beeinflussen oder anzustoßen. Spieler wie Mesut Özil gelten als Vorbilder für Kinder mit ähnlichen Lebensläufen. Die multikulturellen Stammbäume der aktuellen Nationalmannschaft wirken nach innen und außen. Sie leben der deutschen Gesellschaft ein Beispiel vor. Individuen mit unterschiedlichsten persönlichen Geschichten und ethnischen Hintergründen bilden eine Einheit und arbeiten zusammen an etwas Großem, das sie nur gemeinsam erreichen können. Wir für Deutschland. Und sie zeigen der Welt das Gesicht eines neuen, eines anderen, eines vielfältigen Deutschlands: die Nationalspieler sind Botschafter, und die Nationalmannschaft transportiert eine Botschaft.

Die DFB-Elf war nicht immer das beste Aushängeschild

Es ist ein indirekter Einfluss, ein subtiler Einfluss, den die Nationalmannschaft auf die Gesellschaft hat, und einer, der auch nur schwer zu messen ist, Umfragen hin oder her. Die Nationalmannschaft entscheidet keine Wahlen oder sorgt für soziale Gerechtigkeit, sie weckt zwar Emotionen wie nichts sonst, aber sie gibt dem Leben nicht ernsthaft einen Sinn – allerdings kann sie eben helfen, durch das, was sie vorlebt, in den Köpfen etwas zu verändern.

Die Nationalmannschaft als Massenphänomen ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Spiele der DFB-Elf waren schon immer ein nationales Ereignis. Schon immer hat der Fußball Millionen verführt. Vergleichsweise jung aber ist die Relevanz, die dem Team zugesprochen wird.

Der Theologe und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, sagt: „Die Nationalmannschaft bedeutet Identifikation und Orientierung.“

Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sagt: „Heute gibt es kaum mehr sinnstiftende Elemente, und da ist der Fußball in die Bresche gesprungen.“

Ein Team zwischen Leitkultur und Lagerfeuer? Oder zeigt sich darin vielmehr das Leid der Kultur eines Landes, wenn ein simples Spiel doch so bedeutend ist?

Die höchste Einschaltquote der deutschen Geschichte

Im vergangenen Jahr hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) eine Studie veröffentlicht, die er beim Institute for Sports, Business and Society der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Auftrag gebeben hat. „Wir sind Nationalmannschaft. Analyse der Entwicklung und gesellschaftlichen Bedeutung der Fußball-Nationalelf“, ist der Titel. Der Inhalt: die Nationalmannschaft sei in einer Zeit, in der „tradierte gesellschaftliche, politische und soziale Institutionen an Bedeutung verlieren, dank ihrer hohen Sympathiewerte und ihrer enormen gesellschaftlichen Reichweite ein Fels in der Brandung“, sagt der Studienleiter Sascha Schmidt. Die Gesellschaft erodiert, Fliehkräfte zerren an ihr. Kirchen verlieren Mitglieder. Parteien ebenso. Länderspiele einen. Das ist die These.

2013 waren die neun meistgesehenen Sendungen Fußballspiele, 2012 belegten die TV-Übertragungen von Spielen die Plätze eins bis zehn im Ranking, 2011 mogelte sich ein Boxkampf auf Platz vier in die Top Ten zwischen diverse Fußballspiele, 2010 war der Fußball auf den ersten zehn Rängen der Quotenhits unter sich.

Das WM-Halbfinale gegen Spanien 2010 sahen 31,1 Millionen Menschen, nicht eingerechnet die unzähligen in Kneipen und auf Plätzen – es war die höchste Einschaltquote der deutschen TV-Geschichte.

Bierhoff: „Die Nationalelf ist quasi die vierte Macht“

In der DFB-Studie heißt es: „Die Nationalmannschaft schafft einen sozialen Mehrwert für die Gesellschaft, indem sie integrierende Wirkung entfacht und für verbindende Gemeinschaftserlebnisse der Nation sorgt“, schreiben die Wissenschaftler. 95 Prozent der Befragten sehen das Auftreten von Joachim Löws Elf als vorbildlich an, 90 Prozent bezeichnen sich als große Fans. Zusätzlich, so die Wissenschaftler, würde das Team maßgeblich zur Integration ausländischer Mitbürger beitragen. Es könne gar als „vierte Gewalt“ im Staat bezeichnet werden, lautet eine der Thesen der Studie. Judikative. Legislative. Exekutive. Nationalmannschaft? Nun ja, man könnte in diesem speziellen Fall auch Hybris attestieren.

Oliver Bierhoff sieht das nicht so: „Die Nationalelf ist quasi die vierte Macht im Staat“, sagt der Teammanager der Nationalmannschaft. Bierhoff und Co. haben die Rolle als Aushängeschild und größter gemeinsamer Nenner dieses Landes gerne angenommen. Die Rolle als Corporate Identity der BRD, als Identität einer Nation, die sich doch so lange schwertat mit Nationalstolz und den Symbolen dieses Landes. Auch hier war die DFB-Elf tatsächlich einer der Katalysatoren für einen unverkrampfteren Umgang mit Fahnen und dem Schwarz-Rot-Gold dieses Landes: Spätestens seit der Heim-WM 2006 sind die Farben dieser Republik eine Selbstverständlichkeit, auch wenn es wohl oft mehr eine Art Party-Patriotismus sein mag.

Der Fußball hat Kraft. Große Kraft. Er ist in der Lage, gesellschaftliche Debatten zu beeinflussen oder anzustoßen. Spieler wie Mesut Özil gelten als Vorbilder für Kinder mit ähnlichen Lebensläufen. Die multikulturellen Stammbäume der aktuellen Nationalmannschaft wirken nach innen und außen. Sie leben der deutschen Gesellschaft ein Beispiel vor. Individuen mit unterschiedlichsten persönlichen Geschichten und ethnischen Hintergründen bilden eine Einheit und arbeiten zusammen an etwas Großem, das sie nur gemeinsam erreichen können. Wir für Deutschland. Und sie zeigen der Welt das Gesicht eines neuen, eines anderen, eines vielfältigen Deutschlands: die Nationalspieler sind Botschafter, und die Nationalmannschaft transportiert eine Botschaft.

Die DFB-Elf war nicht immer das beste Aushängeschild

Es ist ein indirekter Einfluss, ein subtiler Einfluss, den die Nationalmannschaft auf die Gesellschaft hat, und einer, der auch nur schwer zu messen ist, Umfragen hin oder her. Die Nationalmannschaft entscheidet keine Wahlen oder sorgt für soziale Gerechtigkeit, sie weckt zwar Emotionen wie nichts sonst, aber sie gibt dem Leben nicht ernsthaft einen Sinn – allerdings kann sie eben helfen, durch das, was sie vorlebt, in den Köpfen etwas zu verändern.

Die DFB-Elf war nicht immer das beste Aushängeschild für dieses Land. Sie wurde jahrzehntelang von den Gegnern und Fans allenfalls respektiert ob ihrer Erfolge, aber niemals geliebt. Toni Schumachers brutale Attacke gegen Frankreichs Battiston 1982 und die Sprüche („Ich zahle ihm die Jacketkronen“) prägte das Bild vom „hässlichen Deutschen“ mit. In ausländischen Medien hat die Kriegsrhetorik von Panzern und Stahlhelmen bis heute zwar überlebt, aber vornehmlich reduziert auf britische Boulevardmedien. Seit der WM 2006 hat sich von gelegentlichen Rückfällen in alte Denkmuster etwas Grundlegendes verändert: Es gibt weltweit große Begeisterung für das Spiel dieser deutschen Mannschaft – mehr noch: sogar Neid auf das Potenzial.

Die DFB-Elf ist so ein global bedeutender Werbeträger für dieses Land, sie prägt das Bild von Deutschland im Ausland mit. National ist die Nationalmannschaft eine Cashcow, wie es in der Finanzbranche heißt, die Melkkuh. 100 Millionen Euro spielt das Hochglanzprodukt Nationalmannschaft über TV-Gelder und Sponsoren im Jahr ein, etwa 65 Prozent der Gesamteinnahmen des DFB. Sie ist das Testimonial der Deutschland AG, leiht deutschen Firmen wie Daimler ihr Gesicht und damit Glaubwürdigkeit. „Wie niemals zuvor in ihrer Geschichte stellt sich die Nationalmannschaft in den Dienst dieser milliardenschweren Konzerne“, schreibt die „Zeit“. Und Oliver Bierhoff wirkt wie der Vorstandsvorsitzende der Nationalmannschafts AG. „Die Nationalmannschaft hat einen enormen ökonomischen Mehrwert durch den hohen Image- und Bekanntheitsgrad“, sagt der Teammanager.

Die Euphorie scheint etwas abgeflaut zu sein

Wer so groß denkt, lebt gefährlich. Wenn ein Nationalspieler in eine Hotellobby uriniert oder ein Bundestrainer seinen Führerschein verliert, dann sind das nicht nur persönliche Geschichten, die von manchem vielleicht als menschliche Schwächen abgetan werden, sondern dann richtet das auch Schaden an dem Produkt an, dessen Teil sie sind und das so gerne als porentief rein und vorbildhaft dargestellt wird. „Alles ist unheimlich sensibel geworden“, sagt der Bundestrainer Joachim Löw.

Der Boom und der Bumerang.

In diesen Tagen, kurz vor dem ersten Spiel der deutschen Mannschaft am Montag in Brasilien, ist im Land Unbehagen zu spüren. Es ist keine Missstimmung, aber die Euphorie scheint etwas abgeflaut zu sein. Es gibt viel Skepsis, was das sportliche Abschneiden betrifft, nicht nur wegen der seltsamen Statik dieser Mannschaft ohne Sturm. Viele der 80 Millionen Bundestrainer haben Zweifel, ob trotz des großen Potenzials bei der WM viel zu holen ist.

Es mag noch die Enttäuschung der EM 2012 mit dem Aus im Halbfinale gegen Italien nachwirken, schließlich eint nichts so sehr wie Erfolg, ebenso sind die Bedingungen in Brasilien mit den Protesten und dem Gebaren des Weltverbandes Fifa ein Stimmungstöter. Aber es scheint so, als sei manch einer auch des Sendungsbewusstseins der Fußballheroen überdrüssig und gelangweilt bis genervt von der Inszenierung und dem Dauerbohei um Spieler und Spiele – auf die Spitze getrieben mit Inszenierungen der Kadernominierung auf der Zugspitze oder der Extratour aktuell in Brasilien: Während 31 Teams die angebotenen Hotels wählten, entschied sich der DFB für eine Anlage, die erst noch gebaut werden musste. Ein deutscher Sonderweg. „In einer fernen Welt“, titelte kürzlich die FAZ über das Raumschiff Nationalmannschaft vom Planeten DFB.

Gibt es vielleicht eine Fußballblase, die in Deutschland platzen kann? Wenn Überhöhung einerseits auf Übersättigung plus keine großen Titel andererseits trifft – relativiert sich das dann alles wieder? Wer weiß. Am Montagabend spielt Deutschland Fußball. Und Deutschland wird stillstehen.