Christian Braun hat in der abgelaufenen Bezirksligasaison 70 Tore erzielt. Die frage ist jetzt: Kann der 23-Jährige nun sein Hobby zum Beruf machen? Beobachtungen auf dem Weg vom Freizeitkicker zum Fußballprofi.

Schramberg - Es ist dunkel geworden über dem Bernecksportplatz in Schramberg. Das Flutlicht wirft weite Schatten, als es zu der erhofften Begegnung kommt. „Torjäger trifft Torjäger“, so hatte die Lokalzeitung das Treffen betitelt. Als es so weit ist, passiert es eher zufällig. Gerade hatten sie auf dem properen Kunstrasenplatz noch ein letztes Foto für den Sportversicherungsunternehmer gemacht, der die Bezirksligamannschaft der hiesigen Spielvereinigung sponsert. Die Agentur hat auch den früheren Bundesliga-Torschützenkönig Fritz Walter unter Vertrag. So kommt es, dass der frühere Stürmer des VfB Stuttgart und des SV Waldhof Mannheim einen jungen Mann zur Seite nimmt. Eindringlich spricht Walter auf den 23-Jährigen ein. Er heißt Christian Braun und hat eine wichtige Entscheidung zu treffen: Er könnte Fußballprofi werden. Aber Braun weiß noch nicht, ob er das überhaupt will.

 

Der vorletzte Spieltag der Saison 2011/2012. Es geht gegen SV Rötenberg, einen Absteiger. Schramberg ist vorzeitig Meister, der Aufstieg in die Landesliga perfekt.

Christian Braun fällt auf, lange bevor das Spiel beginnt. Der elastische, durchtrainierte Körper, der lockere Gang mit den orangefarbenen Schuhen, Größe 46. Wie er sich warm macht mit Sprints, Lockerungs- und Dehnungsübungen – so wie man sie von den Profis kennt. Seine Kameraden zeigen da weit weniger Bewegungsdrang.

Der FC Winterthur zeigt Interesse

Dieter Marquardt, ein gemütlicher Mann mit unüberhörbar fränkischem Ursprung, zeigt sich beeindruckt. Der Spielerberater ist nur wegen Christian Braun gekommen. Bezirksligaspiele tut sich Marquardt sonst nicht an. „Aber da musst du dabei sein, wenn so einer spielt“, sagt er und beißt in eine Wurst. Marquardt, früher selbst Spieler, ist keine große Nummer im Geschäft. Normalerweise verkauft er Versicherungspolicen. Als Talentspäher arbeitet er nur nebenbei, aber mit Fifa-Lizenz. Sein bekanntester Protegé Mensur Mujdza spielt immerhin in der Bundesligamannschaft des SC Freiburg. Marquardt sagt, er schaue sich „den Spieler Braun“ im Auftrag des Kollegen Wolfgang Vöge an, der den FC Winterthur berät. Erscheint Braun brauchbar, wird er zu einem Probetraining bei dem Schweizer Zweitligisten eingeladen.

70 Tore hat Christian Braun in den 30 Spiele der Bezirksligasaison für die SpVgg Schramberg geschossen. Macht durchschnittlich 2,33 Tore pro Match. So viele hat niemand in dieser Klasse erzielt, die die siebte nach der Bundesliga ist. Dahinter kommen nur die Kreisligen.

Seitdem er so häufig ins Tor trifft, klingelt beim Feinwerkmechaniker Christian Braun ständig das Telefon. Mehr als ein halbes Dutzend Spielerberater haben ihn bereits angerufen. Man erzählte ihm, dass eine Menge Vereine hinter ihm her seien. Der VfL Bochum, die Stuttgarter Kickers, der VfL Oldenburg, der FC 08 Villingen. Von der Zweiten Liga bis zur Oberliga. Auch die Presse beteiligte sich kräftig an diesen Spekulationen.

Der Milliardenmarkt Fußball

Gerüchte schwirren in der Fußballszene schnell. Sie kommen auf, sobald irgendwo in der Republik ein Spieler auf sich aufmerksam macht – und sei es in der Bezirksliga. Genauso flugs verschwinden sie wieder. Im Milliardenmarkt Fußball werden ständig neue Namen gehandelt. Dem kometenhaften Aufstieg eines vermeintlichen Talents folgt oft der freie Fall. Heute Upgrade, morgen Downgrade.

Der Marktwert des Fußballers Christian Braun wächst, als zunächst die Lokalzeitungen über den „Bezirksligabomber“ und dann sogar der Deutsche Fußball-Bund (DFB) auf seiner Homepage über den „Schwarzwaldbomber“ berichten. Selbst aus der Bundesliga soll es plötzlich Interessenten geben. Im November meldet sich der 1. FC Köln. Braun soll zu einem Probetraining kommen. Erst mal drei Tage. Im Januar wird er noch einmal eingeladen, nun für eine ganze Woche. Braun nimmt bezahlten Urlaub. Er darf an zwei Testspielen mitwirken, trifft beim 2:1-Sieg der Kölner Reserve gegen den Oberligisten Alemannia Aachen II. Eine Profikarriere ist noch fern. Aber Braun schnuppert schon mal daran.

Der Wunsch, Fußballprofi zu werden, schlummert in vielen Jungen. Auf den Bolzplätzen der Republik träumen sie davon, irgendwann so erfolgreich wie Bastian Schweinsteiger, Serdar Tasci oder Mario Götze zu sein. Doch was geschieht, wenn es nicht nur eine irrwitzige Idee bleibt, sondern die Illusion zur Wirklichkeit werden kann? Wem gelingt es schon der eine unter den Tausenden zu sein? Der, der es schafft, der Namenlosigkeit irgendeiner Bezirksliga zu entsteigen?

Wo der Rasensport seine Graswurzeln hat

Christian Braun kommt fußballerisch gesehen von ganz unten. Kreisliga C. Weiter runter geht es nicht. Hier hat der Rasensport seine Graswurzeln. Elf Dörfler verteidigen kickend die Ehre ihres Fleckens. Vor allem, wenn es gegen die Reserveteams aus den Kleinstädten geht.

SV Lauffen, Bezirk Württembergischer Schwarzwald, 700 Mitglieder. Das ist Christian Brauns Verein von Kindesbeinen an. In der Randsportart Radball ist der SV Lauffen recht erfolgreich, gekickt wird auch. Christian Brauns Vater ist Leiter der Fußballabteilung. Bis er 17 ist, steht der Junge im Tor. Weil eines Tages ein Stürmer fehlt, wird er zum Feldspieler umfunktioniert. Lauffen gewinnt 3:0, Christian Braun macht alle drei Tore.

Danach wird er bei der A-Jugend im Sturm und bei der B-Jugend im Tor eingesetzt. Mit 18 spielt er bereits bei den Männern in der Kreisliga B. In einer Saisonhälfte macht er 24 Tore. Lauffen steigt trotzdem ab. Braun schießt das Team in der Kreisliga C mit 35 Toren auf Platz zwei. Beim Relegationsspiel gegen die Zweite von Schramberg siegt Lauffen mit 5:2; Braun macht vier Tore. Danach will ihn Schramberg für die Landesligamannschaft verpflichten. Sein Vater sagt: „Und was wird jetzt aus uns?“

Hrubesch, Klose – es gibt große Vorbilder

In Schramberg läuft es nicht rund. Braun macht zwar schnell acht Tore. Dann aber keine mehr. Die Mannschaft steigt ab. Sein türkischstämmiger Trainer Onur Hepkeskin zeigt ihm auf, woran es ihm fehlt: Fitness. „Wenn du fit bist, wirst du alle Rekorde brechen.“ Braun geht joggen, schiebt Extraschichten. Er übt fast jeden Tag – Ballannahme, Passen, Torschüsse. Die elementaren Dinge. Mal bei seinem aktuellen Verein Schramberg, mal bei seinem Heimatverein Lauffen. Meistens allein. Hepkeskin träumte selbst vom Profifußball. Für Izmir spielte er türkische Jugendliga. In Schramberg bringt er seinen Jungs Systemfußball bei: Balleroberung, schneller Spielaufbau, eingeübte Laufwege, One-Touch-Fußball – so wie ihn Dortmund oder Barcelona praktizieren.

Der Tribünengast Fritz Walter ist von der SpVgg Schramberg beeindruckt. So viel Professionalität, sagt der ehemalige Bundesligastürmer, habe er bei einem Bezirksligisten noch nicht gesehen. Mit 8:0 fertigt Schramberg Rötenberg ab. Braun erzielt vier Treffer, obwohl er erst Ende der ersten Halbzeit eingewechselt wird. Eine Woche später gewinnt Schramberg in Gosheim 2:1; Braun macht das Siegtor in der Nachspielzeit. Nur ein Saisonspiel hat Schramberg verloren – da hat der Torjäger Braun gefehlt. Fast die Hälfte der 147 Schramberger Tore hat er geschossen.

Mancher meint, dass Braun vom Fußball gut leben könnte. Er selbst fragt sich: Von der achten Liga ins Profigeschäft wechseln – kann das gutgehen? Braun kennt seine Defizite. Vor allem im taktischen Bereich müsse er noch hinzulernen, sagt er. Auch das Kopfballspiel erscheint ihm verbesserungswürdig. Und dann das Alter. Er ist ja schon 23. Das Etikett „Talent“ erhalten nur jüngere Spieler. Für die zweite Mannschaft eines Bundesligisten ist Braun uninteressant, dort spielt der Nachwuchs. Der 1. FC Köln hat sich nach dem Probetraining und den Testspielen nicht mehr bei ihm gemeldet. Womöglich sind Brauns Chancen im Profifußball nicht so gut, wie ihm von Talentspähern und Beratern suggeriert wird.

70 Tore sind 70 Gründe, die für Braun sprechen

Es gibt die Vorbilder, denen er folgen könnte. Horst Hrubesch spielte mit 24 noch beim SC Westtünnen, bevor man den Mittelstürmer zu Rot-Weiss Essen in die Bundesliga holte. Danach ging Hrubesch zum Hamburger SV, war Bundesliga-Torschützenkönig, gewann den Europapokal der Landesmeister, die Europameisterschaft und wurde Vizeweltmeister. Oder Miroslav Klose. Der erfolgreichste Torschütze in der Nationalmannschaft nach Gerd Müller kickte bis er 20 war bei der SG Blaubach-Diedelkopf in der pfälzischen Bezirksliga. Oder Edgar Schmitt, der vier Tore zum historischen 7:0-Sieg des Karlsruher SC im UEFA-Cup über den FC Valencia beisteuerte. Ihm war erst im fortgeschrittenen Alter von 28 Jahren bei Eintracht Frankfurt der Sprung in das Fußball-Oberhaus geglückt.

So gesehen sind die 70 Saisontore des Christian Braun 70 gute Gründe, die für ihn sprechen. Fußball ist ein einfaches Spiel. Es sind die Tore, die zählen. Dafür hat Christian Braun einen Riecher. „Den siehst du lange nicht, dann macht er seine Tore“, hat Berater Marquardt beobachtet. Braun ahnt, wo der Ball im Strafraum hinspringt. Hinzu kommt eine unglaubliche Sprungkraft, die von seiner Zeit als Torwart herrührt. Und seine Dynamik. „Fast wie bei Podolski“, sagt Marquardt. Der aktuelle deutsche Nationalspieler hat gerade für 13 Millionen Euro von Köln zu Arsenal London gewechselt. Sieben Millionen Euro wird er dort verdienen. Pro Saison.

Diese Welt liegt weit weg von der des Christian Braun aus Lauffen ob Rottweil mit seinen Kumpels, seiner Arbeit, seiner Familie. In der kommenden Saison, das hat er nun entschieden, will er für Schramberg in der Landesliga spielen. Erst einmal. Er hat es dem Verein versprochen, nachdem er nicht nur aus Köln, sondern auch aus Bochum und Oldenburg nichts mehr gehört hat. In Winterthur könne er ein Probetraining haben, wenn er wolle, sagt der Spielerberater Marquardt.

Was rät der Ex-Profi Fritz Walter?

Aber Braun will zurzeit nicht. Denn er hat ein Problem, über das er nicht gerne redet: Braun muss sich am Sprunggelenk operieren lassen. Einen Termin bei einem Spezialisten im Münchner Klinikum rechts der Isar hat er bereits. Solange er verletzt ist, das weiß Braun, kann er nicht in eine höhere Klasse wechseln. Und wenn er nicht schnell wieder gesund wird und Tore macht, wird er womöglich in der Versenkung verschwinden. Dann kann er zurück nach Lauffen. Kreisliga B statt Bundesliga, kaum Training. Beim Bier danach wird die Kameradschaft gepflegt.

Was hat ihm der Ex-Profi Fritz Walter geraten? „Du kannst es schaffen, keine Frage. Ein Jahr Regionalliga oder die Dritte Liga. Dann angreifen. Aber du musst es bald tun. Die Chance ist jetzt da.“ Der Torjäger Christian Braun wird sich in der kommenden Saison entscheiden müssen. So oder so.