Dutzendfach weht der britische Union Jack entlang der Shankill Road, wo die Zeit stillzustehen scheint: der Frieden in Nordirland ist relativ stabil. Doch viele Protestanten haben den Anschluss verpasst.

Belfast - Die Hauswände erzählen die Geschichte nie erlahmenden Widerstandes. Erst war es Oranierkönig Wilhelm, der den Katholiken vor gut dreihundert Jahren nach hiesiger Lesart eine Lektion erteilte, später Edward Carson, der den protestantischen Protest gegen die irische Unabhängigkeit organisierte. Am nächsten Gebäude sind junge Männer zu sehen, an die Gewehre verteilt werden. Die UVF-Armbinden weisen sie als Mitglieder der Ulster Volunteer Force aus, eine der großen paramilitärischen Organisationen in Nordirland, die für den Verbleib der Provinz im Vereinten Königreich kämpfen. Ihre Toten werden in Wandgemälden entlang der Shankill Road geehrt – unter anderem die des „1. Bataillons West-Belfast“. Die Truppe, die ihrerseits den Katholiken in der Parallelstraße Falls Road viel Leid angetan hat, feiert dieses Jahr ihr Hundertjähriges, wie ein frisch bemaltes Schild verkündet. Daneben steht auf einem Schuppen „No surrender“ – keine Kapitulation.

 

Dutzendfach weht der britische Union Jack entlang der Shankill Road, wo die Zeit stillzustehen scheint. So viel Blut ist hier die Straße hinuntergeflossen, dass es eigentlich für immer genug sein müsste. Wo einst die Eckkneipe Bayardo stand, die in den Siebzigern von einer IRA-Bombe zerstört wurde und fünf Menschen unter sich begrub, haben sie eine Gedenkstätte errichtet. Etwas weiter die Straße hoch wurden in Frizzels Fish Shop am 23. Oktober 1993 neun Menschen in die Luft gesprengt. Und dennoch werden im Shankill auch 15 Jahre nach dem Friedensabkommen für Nordirland noch dieselben Heldengeschichten gemalt.



Für einen kurzen Moment wirkt auch in der Innenstadt von Belfast alles wie früher. Gepanzerte Polizeijeeps fahren zwischen den Passanten Streife. Das Rathaus, vor dem ein kleiner Rentnerchor die baldige Ankunft des Herrn beschwört, wird ebenfalls von Dutzenden Kollegen geschützt. Fehlt nur noch der meterhohe Sperrzaun rund um die City mit den Kontrollposten, den alle Autos und Busse bis in die neunziger Jahre passieren mussten, um überhaupt in die Stadt hineinzukommen.

Die vielen Polizisten sind aber nicht da, weil der religiös motivierte Bürgerkrieg nach Nordirland zurückgekehrt wäre – im Gegenteil. Erstmals wird die Situation als so entspannt angesehen, dass ein politisches Großereignis wie der G-8-Gipfel der westlichen Industriestaaten in Ulster abgehalten werden kann. „Vor 20 Jahren wäre das nicht möglich gewesen“, hat der gastgebende britische Premierminister David Cameron gesagt, als er den Veranstaltungsort bekanntgab. Nun soll die größte Sicherheitsoperation der nordirischen Geschichte Demonstranten in Schach halten sowie Merkel, Putin und Hollande am Gipfelort Enniskillen vor den Toren von Belfast schützen – und US-Präsident Barack Obama natürlich, der gestern in Belfast den noch jungen Frieden in einer Rede gewürdigt hat. So viele Uniformierte hat die Provinz nicht einmal auf dem Höhepunkt der „Troubles“ gesehen.

Die Rathausspitze glänzt in der milden Frühlingssonne. Keine Fahne weht an diesem Tag auf dem neobarocken Prachtbau, was der Grund dafür war, dass Fernsehzuschauer in aller Welt erst im Januar wieder Bilder des alten Nordirland zu sehen bekamen. Die Entscheidung des von der katholisch-republikanischen Partei Sinn Féin dominierten Stadtrats, die britische Fahne nur noch wenige Tage im Jahr zu hissen, führte in protestantischen Wohnvierteln, diesmal vor allem im Osten der Stadt, zu gewalttätigen Ausschreitungen. Tagelang flogen Steine und Molotowcocktails auf Polizisten, Autos brannten. Es waren vor allem Junge auf den Straßen, die alten Kämpen der UVF stoppten den Furor nicht.

Groß ist der Rückhalt auch unter Protestanten nicht. Der Flaggenstreit – Symbol dafür, dass die Protestanten angeblich im eigenen Land nichts mehr zu sagen haben und ihrer Kultur beraubt werden – interessiert viele gar nicht. „Ich kann gut ohne die Fahne leben“, sagt beispielsweise die Rentnerin Margaret, die vor dem Rathaus auf einer Bank sitzt: „Ich habe davor auch nie geschaut, ob sie weht oder nicht.“ Ihre Sitznachbarin Tracy, eine junge Frau, ebenfalls Protestantin, „hätte nichts dagegen, wenn sie noch da oben wäre, aber ich würde dafür nicht auf die Straße gehen“. Zwei ältere Damen kommen vorbei. Sie wollen nicht zurück in die Zeit, die sie nur zu gut kennen. „Ich liebe den Frieden“, sagt die eine, „Belfast ist so viel schöner geworden.“ Und die Benachteiligung der Protestanten im neuen Nordirland? „Ich kann den Müll der Extremisten nicht mehr hören“, sagt die andere, „die sollen endlich erwachsen werden.“



Die soziale Benachteiligung in der Shankill Road ist nicht nur eine statistische Größe. Sehr junge Mütter schieben Kinderwagen vor sich her, junge Männer verbringen den Nachmittag zuhauf in einem der vielen Wettbüros. Der 45-jährige Paul sitzt in der Rex Bar und erzählt, dass er vergangenes Jahr seinen Job als Lastwagenfahrer verloren hat. Es sind genug Kumpels da, mit denen er sein Guinness trinken kann. Man trägt Jogginganzug.

Früher, da ging es irgendwie auch ohne persönlichen Einsatz. Auf der Werft, in anderen Firmen oder bei der Polizei, alle fest in protestantischer Hand, gab es genug Arbeit für jene, die auf der richtigen Seite standen. „Die protestantische Arbeiterklasse hat diesen privilegierten Zugang verloren“, sagt Colette Fitzgerald, die in Belfast die Vertretung der Europäischen Kommission leitet, „und zieht jetzt den Kürzeren gegenüber Katholiken, die solche Jobs nicht bekamen und stattdessen studierten und Lehrer oder Ärzte wurden.“ Zu dem Ergebnis, dass ein Teil der protestantischen Gemeinde im Laufe der Jahre verlernt hat zu lernen, kommt auch eine Studie, an der der Belfaster Politologe Peter Shirlow mitgewirkt hat. „Innerhalb dieser Gruppe“, heißt es darin, „wird der Wert von Bildung nicht hoch genug eingeschätzt.“

Der Kindernachmittag, den das Shankill Women’s Centre organisiert, hat begonnen. Es hat nach den Januar-Unruhen eine Weile gebraucht, bis die Eltern der katholischen Siedlung Carrick Hill es wieder sicher genug fanden, um ihre Kleinen nach der Schule herzuschicken. Nun aber läuft das EU-geförderte Projekt wieder, das die beiden Konfessionen in den Problemvierteln zusammenbringen und die Leistungen der Kinder fördern soll.



Fünf Mädchen sind an diesem Nachmittag da: Autumn, Ciara, Courtney, Emma und Sahane, deren Eltern aus der Türkei stammen. Auf dem Programm stehen Armbänder, die Hausaufgabenbetreuung ist schon fertig. „Am liebsten treffe ich hier meine Freundinnen“, erzählt die elfjährige Autumn, „aber das Beste ist, dass du hier Hilfe bekommst bei allem, was du tust“, denn daheim ist es damit nicht immer so weit her, wie Mark McFerran, der Projektleiter, weiß: „Manche Eltern können selbst kaum buchstabieren oder lesen und kämpfen schon mit dem Grundschulniveau.“

An Unterstützung hat es auch Emma gemangelt. Die Elfjährige, aus einem protestantischen Haushalt im Shankill kommend, hat vor ein paar Monaten den entscheidenden Test, der ans Gymnasium führt, vergeigt. „Der war einfach so schwer“, sagt Emma unbekümmert. Was sie nicht weiß, ist, dass fast alle Schüler aus dem Shankill mit den Zahlen und Worten kämpfen und den Test „in ihrer Gegend seit Jahren fast keiner geschafft hat“, wie der Belfaster Politologe Paul Bew sagt, „sie aber diesen Test schaffen muss, damit ihr später die Türen offen stehen“.

In diesem Sinne leisten Mark McFerran und sein Team echte Friedensarbeit, wenn sie in diesen Ferien eine Sommerschule anbieten, damit ihre Schützlinge im Herbst die Aufnahmeprüfung schaffen. Denn Perspektivlosigkeit und soziale Ausgrenzung in diesen Vierteln nähren das gesellschaftliche Gewaltpotenzial – es bedient sich lediglich der Muster des alten politischen Konflikts. Für die aktiven Paramilitärs ist das ein gefundenes Fressen. Sie nutzen die Wirtschaftskrise so auf ihre Weise. Paul Bew ist sich sicher, dass die Ulster Volunteer Force im Januar vor allem Stärke demonstrieren wollte, um eine große Verhaftungswelle zu verhindern, nachdem zwei ihrer Leute geredet hatten. Die entsprechende Fassadenkunst in der Shankill Road zeigt, dass er recht haben könnte.



Die Stadt ist wieder bunter geworden seit den Januar-Unruhen, die bis auf einzelne Vorfälle abgeflaut sind. In den protestantischen Quartieren in East Belfast, Short Strand, dem Shankill und der Shore Road wehen so viele Union Jacks wie lange nicht – nach Jahren werden auch die Bordsteinkanten wieder blau-weiß bemalt.

Die Rex Bar in der Shankill Road ist in sich schon ein kleines Museum des protestantischen Widerstands. Die rote Hand der Fahne von Ulster ziert das Kneipenlogo. Neben dem Zapfhahn steht ein Schild, das der UVF gewidmet ist: „Wir schlafen sicher in unseren Betten, weil ein paar harte Jungs bereit sind, die Gewalt zu denen zu tragen, die uns Böses wollen.“

Die abweisende Fassade aber trügt. Wer von den Gästen ähnlich kampfbereite Sprüche erwartet, wird enttäuscht. Zum Beispiel von Mark Wallace. „In dieser Wirtschaftskrise leidet doch jeder. Und irgendwie gehört es doch auch dazu, dass immer anderen die Schuld gegeben wird“, sagt der Wirt der Rex Bar. „Außerdem haben wir Protestanten, wenn überhaupt, gewonnen. Oder sehen Sie hier irgendwo ein vereintes Irland?“ Jetzt gebe es Frieden und ja, selbst er, an dessen Kneipe „No surrender“ stehe, schicke seine Kinder jetzt auf eine integrierte Schule: „Wir eineinhalb Millionen Leute, wir haben uns viel zu lang zu wichtig genommen. Die Welt hat sich weitergedreht, und wir müssen uns auch bewegen.“

Der gemischte Kindernachmittag des Shankill Women’s Centre geht zu Ende. Die beiden Erzieherinnen Irma Makin und Leah Blaney schließen ab. Beide sind 31 Jahre alt und leben auf verschiedenen Seiten der Mauer, die Protestanten und Katholiken in den Problemvierteln noch immer trennen. „Vor fünfzehn Jahren sind wir uns vielleicht noch bei irgendwelchen Aktionen auf der Straße gegenübergestanden“, so Leah. Jetzt fördern sie gemeinsam die Kinder, die es möglich machen sollen, dass in zehn Jahren die Peace Walls abgerissen werden können, denn das kann nur eine neue Generation schaffen. Paul, der in der Kneipe sitzt, kann sich das nicht einmal in zehn Jahren vorstellen: „Das gäbe doch nur Ärger.“