Was macht eine Stadt lebendig und urban? Die tiefgreifenden baulichen Veränderungen in Stuttgart haben die Auseinandersetzung über das Thema neu entfacht. Lernen könnten wir von Quartieren wie dem Westen, meint die Architektin Jórunn Ragnarsdóttir.

Stuttgart - Birgit weiß, was wir wollen. Eine große Apfelschorle, ein Mineralwasser und die Ansage, was heute das Tagesessen sei. Hackbraten mit Kartoffelbrei? Nein, dann doch lieber den Stöckleteller. Zur Erklärung, was ein gutes Stadtquartier ist, bräuchte es eigentlich nicht viele Worte. Lediglich eine Einladung in das Café Stöckle, in die Wohnstube des Viertels im Stuttgarter Westen, in dem unsere Büroräume liegen.

 

Wer sich vorstellen möchte, wie es dort aussieht, sollte sich nicht an den Begriff Café halten, eher an den eigentlichen Namen: „Stöckle“. Dieser spiegelt die Atmosphäre der Einrichtung besser wieder, nämlich die der schwäbischbürgerlichen Stube im Erdgeschoss eines gründerzeitlichen Eckhauses. Innen gibt es drei Gasträume, die sich seit ihrer Erstausstattung, die den Geist der fünfziger Jahre atmet, lediglich minimal verändert haben dürften. Neue Anstriche freilich, die eine Aufhellung der Innenräume mit sich brachten, da und dort wenige Ausstattungsdetails, die man glaubte, zur Verschönerung an der einen oder anderen Stelle anbringen zu müssen. Aber ließe der liebe Gott einen längst verstorbenen Stöckle-Stammgast – ähnlich wie er es beim Münchner im Himmel tat – nach vielen Jahren wieder auf die Erde zurückkehren, so fände der sich ohne Umstellung in seiner vertrauten Umgebung zurecht.

Vom Café, dem Gebäude, in dem es sich befindet, und dem gesamten Quartier hat man den Eindruck des „schon immer da Gewesenen“, was natürlich so nicht stimmen kann. Auch diese Häuser, ja, der gesamte Stadtteil, waren um 1900 ein Neubaugebiet. So, wie es heute wieder Neubaugebiete auf den aufgelassenen Kasernen oder stillgelegten Bahngeländen gibt.

Der Stuttgarter Westen aber sieht aus, als hätten seine Erbauer, die Stuttgarter Bürger, mit dem Wissen ihre Immobilie errichtet, dass erst durch den Vorgang des Vererbens der wirkliche Wert einer Sache sichtbar wird. Dazu gehört die Tugend der Geduld, über die Stadtväter, Bauherren, und Architekten einmal verfügten, aber auch die Geduld, die der Konstruktion, dem Material und den Bauplänen innewohnen müssen. Das hat im Übrigen nichts mit der eigentlichen Bauzeit zu tun, denn die Stadtteile der Gründerzeit sind in enorm kurzer Zeit aus dem Boden gewachsen. Nein, es betrifft mehr die Vorstellung, mit dem Bau des Eigentums einen beständigen Wert zu schaffen, an dem die Nachfahren noch lange Freude haben werden.

Der Besitzerstolz ist wesentlich für die Quartiersqualität

Man hat, im Gegensatz zu heute, sich nicht an einem Immobilienfonds beteiligt, sondern lieber eine Parzelle von drei bis vier Ar erworben, die durch ein weises Umlegungsverfahren der Stadt gebildet worden war. Denn der Erwerb einer solchen verhältnismäßig kleinen Parzelle ist für den Mittelstand eine überschaubare Investition. Das Baurecht lässt neben dem Eigennutz genügend vermietbare Flächen zu: im Erdgeschoss als Ladenflächen, in den Obergeschossen als Wohnungen, im anschließenden Hof vermietbare Flächen für Kleingewerbe.

Über lange Jahre abbezahlt, wird das Haus zur Rentenkasse des Besitzers und zur sozialen Absicherung seiner Kinder. Im Gegensatz zu Werten, die ihre Besitzer ein- oder zweimal im Jahr aus dem Tresor holen, um sich genüsslich ihr Vermögen vor Augen zu führen, kann der Hausbesitzer tagtäglich seine Investition selbst nutzen und mit Stolz betrachten und pflegen. Und es ist dieser Stolz, der die Bürger über Generationen hinweg an ihre Stadt bindet.

Der Stolz des Besitzens ist nicht unwesentlich für die Qualität des Quartiers. Denn er hält die Eigentümer an, ihren Besitz zu unterhalten. Er hat sie schon beim Bau angehalten, eine anständige Fassade zur Straße und zum Platz hin errichten zu lassen. So, wie sie sich die Mühe gegeben haben, in ihrer besten Kleidung in die Oper zu gehen, so sahen sie die Verpflichtung, ihrem Gebäude ein anständiges Aussehen zu verleihen – und zwar zu der Seite, wo das Gebäude in die Öffentlichkeit tritt.

Von diesen Benimmregeln zehren wir noch heute, wenn wir davon sprechen, dass es sich um ein schönes Quartier handelt, in dem sich unser Café befindet. Vielleicht zehren wir umso mehr davon, als die Benimmregeln, die damals die Architekten ihren Häusern auferlegt haben, im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Denn dass die Bauherren nicht nur für sich bauen, sondern mit ihrer Bauabsicht dem Raum, der uns allen gehört, Gestalt verleihen – dieser Gedanke ist in vielen Baugebieten abhandengekommen.

Ein Zusammenleben im öffentlichen Raum

Wer ein Innen baut, baut auch ein Außen, hat der Stuttgarter Architekt Max Bächer so treffend formuliert. Die Ich-Gesellschaft, die in den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts Immobilien errichtet hat, als Finanzier oder Planer, hat diesen Grundsatz ignoriert. Sie pfiff auf das Gebot der Verpflichtung des Eigentums zu Gunsten des Mottos: „Wer zahlt, schafft an.“ Aber je mehr sich Neubauten in Ellenbogenmanier aufgrund dieser Mentalität in der Stadt Platz verschafft haben, umso mehr wurde auf der anderen Seite die Schönheit der Gründerzeitquartiere erkannt und geschätzt.

Birgit, die zuvorkommende Bedienung, hat uns inzwischen die Stöckleteller serviert. Sie kennt die Hälfte der Gäste, die sich aus dem Quartier zum Mittagessen täglich einfinden, wie auch die Gäste sich untereinander kennen und sich in freundlichvertrauter Art grüßen, ohne jedwede Anwandlung fraternisierender Umarmungen. Sie verhalten sich wie die Häuser der Nachbarschaft. Irgendwie gehört man zusammen, bildet eine Gemeinschaft, pflegt aber Umgangsformen, die das Zusammenleben im öffentlichen Raum erleichtern.

Das Gericht hebt sich von den Nachbargebäuden ab

Dieser Teil der Gesellschaft spiegelt die Mischung der Bewohner des Quartiers wider. Mittags sind das vor allem ältere Herrschaften, die nicht nur des Hungers wegen ins Stöckle kommen, dann die Ladenbesitzer der Umgebung, die mit zackigen Bewegungen und lautstarken Kommandobestellungen signalisieren, dass sie wenig Zeit haben. Weiter treffen sich dort Bewohner, um über Krankheiten, Scheidungen und Nachwuchs der Nachbarn Neuigkeiten auszutauschen, und schließlich Menschen wie wir, die ihre Büros im heiß geliebten Westen betreiben. Diese Gruppen bilden sozusagen die Hälfte des ökonomischen Grundstocks des Betriebs. Die Stammgäste unterscheiden sich allein schon durch ihre Kleidung, die man neudeutsch als eine schwäbische Variante des Modebegriffs „casual“ bezeichnen kann, von den im Business-Look erscheinenden Besuchern, die von außen in die Stadt eingeflogen sind. Anwälte mit ihren Klienten gehören dazu, die in dem diagonal dem Café gegenüber liegenden Arbeitsgericht Streitsachen austragen.

Dieses Gebäude erkennt man erst richtig auf den zweiten Blick, da es sich in Größe und Bauweise dem städtebaulichen Maßstab unterordnet. Im Unterschied zu den Nachbargebäuden aus Ziegeln oder hellem Sandstein ist es aus grauem Muschelkalk gebaut, mit einer schönen Proportion, die unmissverständlich signalisiert, ein öffentliches Haus zu sein. Sein Architekt hat sich einer Mischung aus klassizistischen Elementen und dem Formenapparat der Reformarchitektur bedient. Aber er hat die gestalterischen Mittel zurückhaltend eingesetzt, auch im Gegensatz zu den eklektizistischen Mietshäusern, bei denen man an manchen Stellen den Eindruck gewinnt, als sei den Architekten beim Entwerfen der Gaul durchgegangen. Der Umstand, dass das Gericht eine ausgesparte Ecke an der Straßenkreuzung bildet und sich dadurch eine Platzanlage ergibt, stärkt den Eindruck, dass es sich hier um ein besonderes Haus mit besonderem Inhalt handelt.

Die Mischung macht die urbane Qualität aus

Wenn wir immer von der Homogenität solcher Stadtquartiere sprechen und auf der anderen Seite nach sozialer Mischung rufen, dann ist es weniger die Mischung der sozialen Gruppen im Quartier als die Mischung durch die Menschen, die es bewohnen, und jener, die zu einem bestimmten Anlass – wie eben zu einer Gerichtsverhandlung –, erscheinen.

Es ist die Mischung, die urbane Qualität ausmacht. Tauschte man das Gericht gegen eine Schule, eine Kirche oder ein Museum, so wäre derselbe Effekt erreicht, der dauerhafte Lebendigkeit des Quartiers sichert. Gericht und Café bilden also an dieser Kreuzung eine soziale und ökonomische Symbiose, wobei das Café nicht nur über, die erwähnten Gasträume verfügt, sondern auch über einen das Hauseck markierenden Ladenzugang.

Sonntagnachmittags finden wir dort vor der Tür das Ende der Schlange, die sich mit ihrem Kopf vor der Verkaufstheke einem Eldorado von Torten, Kuchen und Süßigkeiten gegenüber sieht. Der Umsatz der Schleckereien ist enorm, und die Zahl der Tragtüten, die in der Hand der Kunden zu den Hauseingängen des Quartiers ihren Weg finden, unermesslich.

Viele Menschen kommen auch aus den Nachbarquartieren, andere mit dem Auto, mit dem sie offensichtlich am liebsten direkt in den Verkaufsraum fahren würden, wäre nicht der Bordstein mit ein paar rotweißen Pollern von der Fahrbahn getrennt. Den Kauflustigen wird durch die verbotenen Parkmanöver eine Unterhaltung geboten, die die Wartezeit zu verkürzen scheint.

Guten Quartieren schaden Imbissbuden nicht

Wie langweilig wäre das Quartier, entzöge man ihm den Verkehr. Ungeachtet aller bekannten Nachteile durch Gefahren und Luftverunreinigung gehört ein bestimmtes Maß an Fahrzeugen wie das Salz in der Suppe zum urbanen Leben in der Stadt. Ohnehin scheinen die meisten Autos die Stellplätze dauerhaft zu bewohnen. Man spricht von Parkplatznot, was durchaus positive Effekte hat. Denn viele Bewohner schaffen schon aus diesem Grund ihre Autos ab. Warum soll man auch für den fahrbaren Untersatz so viel Geld ausgeben?

Es sind doch alle Läden für die Grundversorgung hier vorhanden. Ein Metzger, ein Bäcker, ein Frischemarkt, eine Reinigung, der beste Friseur der Stadt, ein Schuhmacher und sogar – wer hätte es gedacht – die Post um die Ecke. Die sehr gute Verkehrsanbindung mit einer Endstation der Straßenbahn wird als Privileg gesehen. Im Übrigen tritt man einem der Carsharing-Unternehmen bei.

Im Sommer bedienen uns Birgit oder ihre Kollegen an einem der Tische im Freien. Rechts und links des Trottoirs stehen die Möbel auf leicht geneigter Fläche. Die großen Bäume, die den breiten Raum der Straße begleiten, bestärken uns in der Meinung, dass es kaum eine bessere Alternative zu dem Modell der europäischen Stadt geben kann. Wenn wir von dort aus auf die Fassaden der dem Stöckle benachbarten Wohnhäuser schauen, erkennen wir den Unterschied zwischen den Erdgeschossen, in denen sich Ladennutzungen befinden, im Gegensatz zu den Wohnungen, die auf den unteren Ebenen zur Straße hinausgehen. Diese liegen um einen Meter erhöht über dem Straßenniveau.

Zum einen, weil dadurch die Kellerräume belüftet werden können, zum andern, weil die Bewohner durch die leicht erhöhte Position sehr gut die Straße beobachten können, ohne dass der Fußgänger einen Einblick in die Wohnung hat. Seit ein paar Jahren haben neue, kleine Lokale an den Straßenecken der Umgebung Platz gefunden. Es findet ein Wechsel der Generationen statt, die Zuneigung zum Viertel macht sich im Publikum bemerkbar, auch durch die sogenannte kreative Szene, die viele Vorzüge des Quartiers schon vor Jahren entdeckt hat. Das Angebot ist gut und die Stimmung lebhaft. Auf den Speisekarten findet man Paninis, Kürbissuppen und Tagliatelle.

Natürlich gibt es auch den Dönerladen und den Backshop um die Ecke. Aber gute Quartiere haben den Vorteil, dass ihnen schlechte Architektur oder ein Billigimbiss nicht schadet. Schließt der Laden, oder wird der einzelne Hausbesitzer insolvent, macht es das Quartier nicht kaputt. Das ist der Unterschied zu den großen Shoppingmalls wie Milaneo oder Gerber. Halten wir also dem Stöckle die Treue, solange das Stadtquartier nicht durch Heuschrecken überfallen wird.

PS: Wenn Sie wie wir bald zu den Stammgästen zählen, bringt Ihnen Birgit unaufgefordert und ohne dass Sie dafür bezahlen müssen zwei Schokoladentrüffel zum Espresso. Zwei Trüffel pro Tasse, wohlgemerkt.

Die Autorin

Jórunn Ragnarsdóttir Foto: Martin Stollberg
Jórunn Ragnarsdóttir ist Partnerin im Büro Lederer, Ragnarsdóttir, Oei. Daneben gehört die Stuttgarter Architektin den Gestaltungsbeiräten von Lübeck und Freiburg an.