Die drohende Offensive in Rafah führt zu deutlichen Worten aus Brüssel. Derweil gehen die Kampfhandlungen weiter - auch im angrenzenden Libanon. Die News im Überblick.

Tel Aviv/Gaza/Beirut/Brüssel - Deutschland und 25 andere EU-Staaten fordern eine sofortige humanitäre Feuerpause im Gaza-Krieg. Diese solle zu einem dauerhaften Waffenstillstand, zur bedingungslosen Freilassung der Geiseln und zur Bereitstellung von humanitärer Hilfe führen, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Treffen der EU-Außenminister in Brüssel.

 

Die 26 EU-Mitgliedstaaten forderten Israel außerdem auf, keine militärischen Maßnahmen in Rafah im äußersten Süden des Gazastreifens zu ergreifen. Kritiker befürchten, dass sich die ohnehin schon dramatische humanitäre Situation in dem Gebiet dadurch noch einmal verschlechtern könnte. In der Stadt leben derzeit mehr als eine Million Zivilisten - die meisten von ihnen sind Flüchtlinge aus anderen Teilen des Gazastreifens.

Ungarn wollte den gemeinsamen Appell nicht unterstützen, wie die Deutsche Presse-Agentur von mehreren Diplomaten erfuhr. Ungarn gilt in der EU als besonders israelfreundlich.

Angriff auf mögliches Waffendepot im Libanon

Bei zwei israelischen Luftangriffen nahe dem Küstenort Ghazieh südlich von Sidon sind indes libanesischen Sicherheitskreisen zufolge mindestens 14 Menschen verletzt worden. Getroffen wurde demnach ein Industriegebiet etwa 60 Kilometer von der israelisch-libanesischen Grenze entfernt. Das israelische Militär bestätigte den Angriff. Ziel sei demnach ein Waffendepot der libanesischen Hisbollah-Miliz gewesen.

Der Angriff war demnach eine Reaktion auf eine Drohnenattacke nahe der israelischen Stadt Tiberias. Ersten Erkenntnissen zufolge soll die Drohne von der Hisbollah gestartet worden sein, hieß es von der Armee. Ob es sich bei den Verletzten im Libanon um Hisbollah-Kämpfer oder Zivilisten handelte, war zunächst unklar.

Es ist das erste Mal seit Ausbruch des Gaza-Krieges, dass ein Ort nahe Sidon, der viertgrößten Stadt im Libanon, getroffen wurde. Bisher hatte die israelische Armee hauptsächlich Ziele nahe der Grenze angegriffen.

Israelische Armee nimmt Krankenhaus in Chan Junis ein

Über das Wochenende setzte das israelische Militär zudem seine Einsätze gegen die islamistische Hamas-Miliz in der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens fort. Dabei brachte die Armee das Nasser-Krankenhaus, eine der größeren Kliniken des Küstengebiets, unter seine Kontrolle. Nach Darstellung von Mitarbeitern ist das Krankenhaus nicht mehr funktionsfähig.

Die Armee teilte mit, hunderte Terroristen und Terrorverdächtige, die sich in der Klinik versteckt hätten, seien gefangen genommen worden. Einige von ihnen sollen sie sich als medizinisches Personal ausgegeben haben.

Verteidigungsminister Joav Galant sieht derweil den Kampfgeist der Islamisten nach mehr als vier Monaten Krieg gebrochen. "200 Terroristen ergaben sich im Nasser-Spital, Dutzende weitere im Amal-Spital", sagte Galant bei einer Besprechung mit Armeekommandeuren. "Das zeigt, dass die Hamas ihren Kampfgeist verloren hat." Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

Umstrittenes Vorrücken nach Rafah

In Rafah bereitet sich die israelische Armee zudem auf ein Einrücken vor, um die verbliebenen Hamas-Bataillone zu zerschlagen und dort vermutete Geiseln zu befreien. Die israelische Regierung hat aber diesbezüglich noch keinen Einsatzbefehl erteilt. Ein militärisches Vorgehen in der südlichsten Stadt des Gazastreifens ist höchst umstritten, weil sich dort auf engstem Raum 1,3 Millionen Palästinenser drängen, von denen die meisten vor den Kämpfen in anderen Teilen des Küstengebiets geflohen sind.

Ein Resolutionsentwurf der Vereinigten Staaten zum Gaza-Krieg deutet auf eine weitere Distanzierung Washingtons vom israelischen Militäreinsatz im Süden des Gazastreifens hin. In der Beschlussvorlage für den Weltsicherheitsrat heißt es, dass die geplante Bodenoffensive Israels in die Stadt Rafah "zu weiteren Schäden für Zivilisten und ihrer weiteren Vertreibung, möglicherweise auch in Nachbarländer, führen würde". Deshalb sollte "eine derart große Bodenoffensive unter den gegenwärtigen Umständen nicht durchgeführt werden". Außerdem heißt es in dem Text, es brauche eine "vorübergehende Waffenruhe in Gaza so bald wie möglich". Der Text liegt der Deutschen Presse-Agentur vor.

Hamas: Mehr als 29.000 Tote seit Kriegsbeginn

Seit Beginn des Gaza-Krieges vor mehr als vier Monaten sind nach Angaben der von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 29.000 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden. Binnen 24 Stunden seien 107 Palästinenser getötet und 145 weitere verletzt worden, teilte die Behörde mit.

Damit sei die Gesamtzahl der Toten auf mindestens 29.092 gestiegen. Außerdem seien seit dem 7. Oktober mehr als 69.000 Menschen im Gazastreifen verletzt worden. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Es wird davon ausgegangen, dass viele Leichen noch verschüttet sind. Nach UN-Schätzungen handelt es sich bei einem Großteil der Getöteten um Frauen und Minderjährige. Der israelische Generalstabschef Herzi Halevi hatte zuletzt gesagt, die Armee habe im Gazastreifen "bisher mehr als 10.000 Terroristen ausgeschaltet, darunter viele Kommandeure".

Netanjahu: Militärische Kontrolle über palästinensische Gebiete bleibt

Selbst im Falle einer Einigung mit den Palästinensern über eine Zweistaatenlösung beansprucht Israel die umfassende militärische Kontrolle über alle palästinensischen Gebiete. "In jedem Fall, mit oder ohne dauerhafte Lösung: Israel wird die vollständige Sicherheitskontrolle über alle Gebiete westlich des Jordans beibehalten", sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Video-Botschaft. Dies schließe "selbstverständlich" das Westjordanland und den Gazastreifen ein.

Als Israels wichtigster Verbündeter machen sich die USA zunehmend für die Zweistaatenlösung stark, die ein friedliches Nebeneinander von Israel und einem künftigen palästinensischen Staat vorsieht. Dieser soll sich weitgehend auf den von Israel seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten erstrecken, das heißt dem Westjordanland, Ost-Jerusalem und dem Gazastreifen. Washington will die - durchaus nicht in Reichweite liegende - Beendigung des gegenwärtigen Gaza-Kriegs mit der Heranführung an die Zweistaatenlösung verknüpfen, um die Nahost-Region dauerhaft zu befrieden.

Marshallplan für Wiederaufbau Gazas gefordert

Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaje forderte die internationale Gemeinschaft unterdessen zu einem Aufbauprogramm für das schwer zerstörte Küstengebiet auf. "Wir brauchen einen Marshallplan für den Gazastreifen", sagte Schtaje am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. Dieser Plan müsse aus drei Komponenten bestehen: Nothilfe, Rekonstruktion und einer Wiederbelebung der Wirtschaft. "Wir wissen aus Satellitenaufnahmen, dass 45 Prozent des Gazastreifens zerstört sind. Das bedeutet 281.000 Wohneinheiten, die vollständig oder teilweise zerstört sind."

Eine Reparatur könne teils schon in Wochen oder Monaten möglich sein. "Das bedeutet, wir brauchen dafür viel Geld", führte Schtaje weiter aus. Mit den Vereinten Nationen laufe eine Untersuchung, wie man der größten Not begegnen könne. Der Regierungschef amtiert mit seiner Autonomiebehörde im Westjordanland und hat keine faktische Kontrolle über den bis zum Kriegsausbruch von der Hamas allein beherrschten Gazastreifen.

Anhörung in Den Haag beginnt

Zum Auftakt der Anhörung zur Rechtmäßigkeit von fast 60 Jahren israelischer Besatzung beim Internationalen Gerichtshof hat der palästinensische Außenminister Gerechtigkeit für sein Volk gefordert. Seit Jahrzehnten verstoße Israel bewusst gegen internationales Recht, sagte Riad Malki vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag. "Die Kraft des Rechts muss siegen."

Die UN-Generalversammlung hatte 2022 ein Rechtsgutachten des Gerichtshofes beantragt. Es soll prüfen, inwieweit die 57 Jahre dauernde Besatzung legal ist und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben. Das Gutachten ist zwar nicht bindend, kann aber den internationalen Druck auf Israel im aktuellen Gaza-Krieg weiter erhöhen.