Zu den tragischsten Fällen falscher Erinnerungen des autobiografischen Gedächtnisses gehört die Geschichte des angeblichen Holocaust-Opfers Binjamin Wilkomirski. Dieser hatte 1995 eine Autobiografie veröffentlicht, in der er von seinen Erlebnissen als kleiner Junge im von den Nazis besetzten Lettland und in zwei Konzentrationslagern berichtete. Wilkomirski trat vielfach als Augenzeuge auf, der vor Schulklassen von den Nazigräueln berichtete. Doch Wilkomirski war nie in einem Konzentrationslager interniert gewesen. Er wuchs in der Schweiz als Waisenknabe auf und hieß in Wirklichkeit Bruno Grosjean. Dennoch mochten Psychologen und Gedächtnisforscher den Mann nicht als Lügner im klassischen Sinne bezeichnen. Grosjean hatte unbeabsichtigt Gehörtes und Gelesenes in sein eigenes Leben projiziert, sich in die angeblichen Erlebnisse hineingesteigert und daraus eine neue Erinnerung fabriziert, die er selbst für wahr hielt.

 

Wie steht es aber um die Erinnerung von Naziopfern, die nachweislich im Konzentrationslager einsaßen? Können wir ihnen trauen? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Ja, weil die Todesangst, die Erniedrigung, der Hunger und die Qualen zu den traumatischen Erfahrungen ihres Lebens zählen. Solche Schlaglichterinnerungen werden vom Gehirn überdurchschnittlich gut und intensiv gespeichert. Sie brennen sich ein.

Die Amygdala speichert zu den Eindrücken die Gefühle

Verantwortlich dafür ist ein kleiner mandelförmiger Bereich im sogenannten limbischen System, die Amygdala (auf Deutsch „Mandelkern“). Als limbisches System bezeichnet man den Teil des Gehirns, der für die Emotionssteuerung zuständig ist. Die Amygdala drückt neueren Forschungen zufolge besonders mit Emotionen beladenen Erinnerungen ihren Stempel auf. Wenn man diese Erinnerungen wachruft, wird die Amygdala erneut aktiviert. Man durchlebt die Emotionen ein weiteres Mal. Auf diese Weise entsteht das Posttraumatische Syndrom, eine schwere psychische Belastung von Menschen, die nicht vergessen können. Es ist also unzweifelhaft, dass die Grausamkeiten, die die vielen Opfer der Konzentrationslager übereinstimmend schildern, einen realen Hintergrund haben. Sie sind fast immer so oder ähnlich wirklich geschehen.

Das „oder ähnlich“ ist dabei der entscheidende Punkt. Nur ein geringer Teil der Informationen, die ein Mensch wahrnimmt, gelangt vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis. Zudem überschreibt das Gehirn alte Erinnerungen und baut neue Erkenntnisse darin ein. Es kann auch passieren, dass reale Ereignisse, die sich zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten zugetragen haben, im autobiografischen Gedächtnis zusammengeführt werden.

Viele Menschen glauben, das Gedächtnis sei so etwas wie eine DVD-Kamera, die die Wirklichkeit aufnimmt. Wer sich seine Urlaubsvideos anschaut, wird stets die gleichen Bilder sehen, egal, wie oft er den Film abspielt. Dank der modernen Digitaltechnik verlieren die Aufnahmen noch nicht einmal an Qualität. Erinnerungen hingegen verblassen. Ähnelt das menschliche Gedächtnis also eher jenen Super-8-Filmen, auf die manche Szene aus dem Familienleben der sechziger und siebziger Jahre gebannt wurde? Deren Material wird porös und brüchig, die Bilder werden bei jedem Abspielen grobkörniger und unschärfer, am Ende zerbröselt der ganze Film. Aber selbst diese Metapher stimmt nicht. Die Erinnerung wird mit dahinschreitender Zeit nicht nur undeutlicher, sie verändert sich. In manchen Fällen entsteht eine vollkommen neue Erinnerung, ohne dass dies den Betroffenen bewusst ist.

Das haben zahlreiche Gedächtnisstudien nachgewiesen. So zeigten Wissenschaftler in mehreren Versuchen Collegestudenten Videoaufzeichnungen, auf denen sie den Ablauf eines Verkehrsunfalls verfolgen konnten. Die Studenten sollten sich so viele Details wie möglich merken. Später fragten die Forscher die Studenten nach diesen Einzelheiten. Sie stellten dabei allerdings suggestive Fragen, zum Beispiel: „Hat der Fahrer des grünen Wagens das Stoppschild übersehen?“, obgleich in Wirklichkeit eine Ampel zu sehen gewesen war. Die Studenten antwortet darauf nicht nur falsch – sie bezogen diese gefälschten Erinnerungsdetails auch in spätere Erzählungen ein und berichteten ganz von selbst, dass der Fahrer das Stoppschild missachtet habe. Dabei zeigten sie sich fest davon überzeugt, sich korrekt zu erinnern.

Die Todesangst ist eingebrannt

Zu den tragischsten Fällen falscher Erinnerungen des autobiografischen Gedächtnisses gehört die Geschichte des angeblichen Holocaust-Opfers Binjamin Wilkomirski. Dieser hatte 1995 eine Autobiografie veröffentlicht, in der er von seinen Erlebnissen als kleiner Junge im von den Nazis besetzten Lettland und in zwei Konzentrationslagern berichtete. Wilkomirski trat vielfach als Augenzeuge auf, der vor Schulklassen von den Nazigräueln berichtete. Doch Wilkomirski war nie in einem Konzentrationslager interniert gewesen. Er wuchs in der Schweiz als Waisenknabe auf und hieß in Wirklichkeit Bruno Grosjean. Dennoch mochten Psychologen und Gedächtnisforscher den Mann nicht als Lügner im klassischen Sinne bezeichnen. Grosjean hatte unbeabsichtigt Gehörtes und Gelesenes in sein eigenes Leben projiziert, sich in die angeblichen Erlebnisse hineingesteigert und daraus eine neue Erinnerung fabriziert, die er selbst für wahr hielt.

Wie steht es aber um die Erinnerung von Naziopfern, die nachweislich im Konzentrationslager einsaßen? Können wir ihnen trauen? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Ja, weil die Todesangst, die Erniedrigung, der Hunger und die Qualen zu den traumatischen Erfahrungen ihres Lebens zählen. Solche Schlaglichterinnerungen werden vom Gehirn überdurchschnittlich gut und intensiv gespeichert. Sie brennen sich ein.

Die Amygdala speichert zu den Eindrücken die Gefühle

Verantwortlich dafür ist ein kleiner mandelförmiger Bereich im sogenannten limbischen System, die Amygdala (auf Deutsch „Mandelkern“). Als limbisches System bezeichnet man den Teil des Gehirns, der für die Emotionssteuerung zuständig ist. Die Amygdala drückt neueren Forschungen zufolge besonders mit Emotionen beladenen Erinnerungen ihren Stempel auf. Wenn man diese Erinnerungen wachruft, wird die Amygdala erneut aktiviert. Man durchlebt die Emotionen ein weiteres Mal. Auf diese Weise entsteht das Posttraumatische Syndrom, eine schwere psychische Belastung von Menschen, die nicht vergessen können. Es ist also unzweifelhaft, dass die Grausamkeiten, die die vielen Opfer der Konzentrationslager übereinstimmend schildern, einen realen Hintergrund haben. Sie sind fast immer so oder ähnlich wirklich geschehen.

Das „oder ähnlich“ ist dabei der entscheidende Punkt. Nur ein geringer Teil der Informationen, die ein Mensch wahrnimmt, gelangt vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis. Zudem überschreibt das Gehirn alte Erinnerungen und baut neue Erkenntnisse darin ein. Es kann auch passieren, dass reale Ereignisse, die sich zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten zugetragen haben, im autobiografischen Gedächtnis zusammengeführt werden.

Der britische Gedächtnisforscher Alan D. Baddeley berichtet in seinem Buch „Das menschliche Gedächtnis“ von einem besonders drastischen Fall. Betroffen war sein Kollege, der australische Psychologe und Gedächtnisforscher Donald Thomson. Eines Tages wurde er aus heiterem Himmel verhaftet und zu einer polizeilichen Gegenüberstellung gebracht. Dabei beschuldigte ihn eine Frau, sie vergewaltigt zu haben. „Unmöglich“, wehrte sich Thomson im Verhör, er habe sehr viele Zeugen, die seine Unschuld beweisen könnten, unter anderem einen stellvertretenden Polizeichef und einen Beamten des Ausschusses für Bürgerrechte. Er hatte nämlich zum Zeitpunkt der Tat in einer Live-Talkshow im Fernsehen ausgerechnet von seinen Forschungen zum Thema „Fehlbarkeit von Zeugenaussagen“ berichtet. Das Opfer hatte die Sendung kurz vor der Vergewaltigung ebenfalls gesehen – und dann Thomsons Gesicht fälschlich als das des Vergewaltigers abgespeichert. Eine solche Verwechslung ist nicht untypisch für die Arbeitsweise des Gehirns, Erinnerungen aus verschiedenen Quellen zu vermischen und sie neu zusammenzusetzen. Wissenschaftler sprechen von Quellenamnesie.

Unser Gedächtnis bezieht später Gelerntes mit ein

Das menschliche Gedächtnis ist ein Palimpsest. Das waren im Mittelalter Pergamente, die von sparsamen Mönchen immer wieder abgekratzt und mit einem neuen Text beschrieben wurden. Nur dass im Gedächtnis der alte Text dem neuen ähnelt – und zwar so sehr, dass die Betroffenen ihn für den ursprünglichen halten. Hirnforscher wissen inzwischen, dass bei Langzeiterinnerungen die Neuronen feuern, die auch am ursprünglichen Erleben beteiligt waren: Wenn man sich etwas Gesehenes ins Gedächtnis ruft, werden die Neuronen im visuellen Cortex aktiv, dem Teil des Gehirns, der optische Reize verarbeitet. Denkt man an etwas, das man vor Langem gehört hat, feuern die Neuronen des auditiven Cortexes und so weiter. Bei komplexen Erinnerungen spielen alle Gehirnbereiche zusammen. Diese Aktivierungsmuster sind aber nicht hundert Prozent deckungsgleich, sondern ähneln sich nur. Deshalb überlagern sich Erinnerungen oder beziehen später Gelerntes mit ein.

Besonders unzuverlässig geht das Gedächtnis mit Handlungen um, die im Widerspruch zum eigenen Selbstbild stehen. Der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens zum Beispiel war vor seiner Demenzerkrankung beschuldigt worden, bewusst seine Mitgliedschaft in der NSDAP verheimlicht zu haben. Jens‘ Name war in einer Mitgliederliste der Nazipartei aufgetaucht, die seinen Eintritt im Sommer 1942 verzeichnete. Niemand kann mit Sicherheit sagen, was wirklich geschah. Vielleicht log Jens bewusst. Oder es stimmt, was er als Erklärung vorbrachte, nämlich dass er ohne sein Wissen in die Partei aufgenommen wurde. Aber einen Gedächtnisforscher würde es nicht verwundern, wenn Jens keine Erinnerung mehr an einen freiwilligen Parteieintritt gehabt hätte. Zu sehr stand ein solcher Schritt quer zu seinen späteren moralischen Überzeugungen. Gerade in solchen Fällen biegt sich das Gedächtnis die Erinnerung zurecht.

Evolutionsbiologisch ist das Vorgehen des Gehirns sinnvoll. Das autobiografische Gedächtnis in Einklang mit den eigenen moralischen Überzeugungen zu bringen trägt zur Integrität der eigenen Person und zur psychischen Stabilität bei. Zudem war das Gedächtnis generell nicht dafür angelegt, den Urmenschen faktengetreue Zeugenaussagen vor steinzeitlichen Gerichten zu ermöglichen. Es ging ums Überleben und die Fortpflanzung. Diejenigen Urmenschen, die sich an Muster von Erlebnissen in ihrer Vergangenheit erinnerten, hatten einen Überlebensvorteil, ihnen nützte es, wenn sie später Gelerntes in ihre Erinnerungen integrierten.

Für die Geschichtswissenschaftler steht deshalb fest, dass historische Fakten sich durch Augenzeugenberichte nicht zuverlässig evaluieren lassen. Dies haben Forscher gezeigt, indem sie aufzeichneten, wie sich Menschen erinnern, voneinander von den Terroranschlägen des 11. September 2001 erfahren zu haben. Anschließend verglichen sie die Aufzeichnungen. Jeder der Beteiligten hatte die Details etwas anders in Erinnerung, die großen Linien stimmten aber überein. Es ist also unmöglich, ein Ereignis korrekt aufzuarbeiten, indem man sich auf das autobiografische Gedächtnis der Beteiligten verlässt. Manche Oral-History-Forscher versuchen deshalb, eine gemeinsame Schnittmenge der Erinnerungen zu finden, indem sie möglichst viele Zeitzeugen eines bestimmten Ereignisses befragen. Doch auch das funktioniert nur, wenn die Zeugen vorher nie miteinander gesprochen haben. Haben sie sich bereits über das Erlebte ausgetauscht, synchronisiert ihr Gehirn gleichsam die jeweiligen Erinnerungen. Sie erschaffen sich eine gemeinsame Erinnerung.

Das gilt auch für die Einzelheiten, die Dorothea Günther über ihre Erlebnisse am Kriegsende berichtet und die sie vermutlich schon mehrfach mit anderen geteilt hat. Zeitzeugenerinnerungen verlieren dadurch nicht an Wert. Sie sind nur nicht mehr primär Quellen, um historische Fakten zu eruieren. Vielmehr legen sie, wie der Historiker Ralf Meindl sagt, Zeugnis davon ab, wie unser Gedächtnis mit der historischen Erinnerung umgeht.

Oral History und Hirnzellen

Als „Oral History“ (mündliche Geschichte) werden Zeitzeugenberichte bezeichnet, die von Historikern in Interviews erhoben werden. Dabei versuchen die Wissenschaftler, die Erinnerungen der Zeitzeugen nicht durch Suggestivfragen zu beeinflussen oder ihnen bestimmte Antworten in den Mund zu legen. Der modernen Oral-History-Geschichtswissenschaft geht es weniger um Faktenerhebung als darum, die Art der Erinnerung selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen.

Dieser Essay von Markus Reiter basiert auf dem neuen Buch des Autors: „Schlaue Zellen. Das Neuro-Buch für alle, die nicht auf den Kopf gefallen sind“. Es ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen, hat 256 Seiten und kostet 19,99 Euro. Reiter befasst sich darin ausführlich mit der Funktionsweise des Gedächtnisses, aber auch mit anderen Verzerrungen der Wahrnehmung durch das Gehirn. Er gibt außerdem Tipps, wie man das Gedächtnis schulen und sich seiner Selbsttäuschungen bewusst werden kann.