Auch in Degerloch gab es Opfer der sogenannten Euthanasie. Alice Stoll lebte an der Meistersingerstraße. Sie litt an Epilepsie, 1940 wurde sie von einer Heilanstalt nach Grafeneck verlegt. Dort starb sie in der ersten Gaskammer des Dritten Reichs.

Degerloch - Ein unendlich schweres Leid sei über sie gekommen, schreibt die Degerlocherin Mina Stoll 1941 in einem Brief an einen Pfarrer. Sie habe ihre Tochter Alice in eine Heilanstalt gegeben. Von dort sei sie verlegt worden und dann plötzlich verstorben. Die Mutter scheint zu ahnen, dass der Tod ihrer 1899 geborenen Tochter kein natürlicher war. Sie schreibt an den Pfarrer, dass sie Alice wieder bei sich aufgenommen hätte, wenn die Anstalt sie nur danach gefragt hätte.

 

Gerüchte über den Massenmord

Möglich, dass Mina Wolf etwas von den Gerüchten gehört hat, die zunehmend Unmut in der Bevölkerung erzeugten. Längst hatte sich nach 1939 herumgesprochen, dass Kranke von ihren Heimen in Bussen an Orte wie das Schloss Grafeneck im Landkreis Reutlingen gefahren wurden und von dort nicht mehr zurückkamen. Bekannt war zudem, dass das NS-Regime Behinderte oder psychisch Kranke als Gefahr für die gesunde „Volksgemeinschaft“ und als „unnütze Esser“ diffamierte.

Alice Stoll litt an Epilepsie. Ihr Anstaltsarzt schrieb 1940, dass Stoll sich selbst versorgen könne und ein heiteres Wesen habe. Sie arbeite in einer Webschule und schreibe und lese in ihrer Freizeit. In einem Brief, der der Autorin Elke Martin vorliegt, beschreibt Alice Stoll, wie gern sie ihren Eltern zur Hand gegangen sei. Bei ihnen ist sie an der Meistersingerstraße aufgewachsen. Alice Stoll macht beim Schreiben einige Fehler, doch einen „schwachsinnigen“ Eindruck, wie es im NS-Jargon hieß, macht ihr Brief nicht.

Den Quellen zufolge wurde die Degerlocherin am 5. November 1940 nach Grafeneck verlegt. Dort wurde sie mit anderen Patienten in einer als Duschraum getarnten Gaskammer mit Kohlenmonoxid vergast. Das Personal, das Alice Stoll und insgesamt mehr als 10 000 Menschen ermordete, machte im Dritten Reich weiter Karriere – unter anderem in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka.

Eine neue Gedenkstele bei der Bezirksärztekammer in Degerloch soll an die Opfer der NS-Verbrechen erinnern.

Das Buch zum Thema:

Mehr Informationen über Euthanasieverbrechen in Stuttgart hat Elke Martin in ihrem Buch „Verlegt – Krankenmorde 1940 bis 1941 am Beispiel der Region Stuttgart“ gesammelt. Es ist über Die Anstifter (www.die-anstifter.de) erhältlich.