Der Kocherlball, Münchens größte Volkstanzgaudi, zieht mitten im Sommer mehr als zehntausend Besucher an, und das regelmäßig in aller Herrgottsfrühe. Aus Gründen der Sittsamkeit war der Ball hundert Jahre lang verboten.

München - Was schenkt sich eine Stadt, die schon alles hat? Einen Kostümball im Hochsommer und das auch noch zu nachtschlafender Zeit. Auf die Sekunde genau um sechs Uhr morgens hieß es diesen Sonntag wieder einmal: “Pack ma’s!” Und dann ging’s los im Englischen Garten von München, unter dem Chinesischen Turm, mit bayerischer Blas- und Volkstanzmusi der Spitzenklasse. Bis zu 15.000 Frühaufsteher seien dieses Jahr dabeigewesen, heißt es.

 

“Kocherlball” nennt sich die über hundert Jahre aus Gründen der öffentlichen Sittsamkeit verbotene und nun wiederbelebte Traditionsveranstaltung. “Kocherl” deswegen, weil das im 19. Jahrhundert die – einzige – allwöchentliche Vergnügung der Köchinnen, der Laufburschen und anderer häuslicher Dienstboten war. Die bekamen eben nur sonntags morgens Ausgang.

Heute ist der Kocherlball eine Art Generalprobe fürs Oktoberfest. Praktisch alle Besucher, Menschen jeglichen Alters, Teilnehmer bayerischer wie nichtbayerischer – also gewissermaßen extra-globaler – Zungenschläge, Eingeborene ebenso wie Zeitgenossen aller Hautfarben dieser Welt stecken sich da in Dirndl und Lederhosen, mit kurzen Ärmeln und kurzen Beinen, weil man das halt im Juli so tut, auch an einem Sonntagmorgen, der selbst für ein Frühlingsfest zu kalt wäre.

Das deftigste Frühstück der Stadt

Unter den Suppenschüsseln mit den Weißwürsten, unter den Kasplatt’n, dem Schweinsbraten und den Wurstsalatbergen biegen sich die Tische. Das Bier fließt überall in Strömen; selbst junge Mädchen – Typ Studentinnen oder Auszubildende - ziehen mit Masskrügen übers Gelände, über den Unterarm lässig eine Riezenbrez’n gehängt.

Zum Tanzen wird’s bald eng unter der Pagode. Drehen beim Walzer ist vor lauter Leuten kaum noch möglich, die Polka tritt auf der Stelle, nur beim Zwiefachen mit seinem typisch bayerischen Wechsel zwischen Dreier- und Zweier-Rhythmus, da fliegt so manches ungeübte Paar aus der Taktkurve.

Angehörige von Münchner Traditionsvereinen sind dabei; die posieren aber lieber – ohne zu tanzen – an den Biertischen für die Fotografen: Angetan mit Zylindern oder Kutscherhüten, mit Reifröcken in Brokat und blumenumkränzten Hütchen mimen sie Biedermeier, die Gute Alte Zeit eben. Sogar ein Büttel mit Pickelhaube – außer Dienst hoffentlich – gehört dazu.

Terrorgefahr? Weiterfeiern!

Natürlich steckt auch der Oberbürgermeister in einer kurzen Lederhose. Und natürlich passt die Frage kaum in die frühmorgendliche Ball-Laune, aber Dieter Reiter (SPD) schiebt sie auch nicht zur Seite: Wie er sich in einem solchen Massengedränge und in Erwartung der noch viel größeren Wiesn jetzt fühlt – nach dem verheerenden Lastwagen-Attentat von Nizza? “Tja”, sagt der OB, “wir tun alles, die subjektive Sicherheit so groß wie möglich zu machen. Vollständige objektive Sicherheit wird’s nicht geben.” Gerade die Wiesn, fügt Reiter hinzu, “die war noch nie risikofrei. Allein wegen des Alkoholkonsums der Besucher nicht.” Und die möglichen Terroristen? “Wir dürfen uns von denen nicht unser Leben diktieren lassen. Würden wir aufhören, Feste zu feiern, würde ihre Strategie aufgehen.”

Mittlerweile wird es zehn Uhr. Für die “Kocherl” des 19. Jahrhunderts bedeutete das: Die Herrschaften kommen aus der Sonntagsmesse heim und wollen füglich bedient sein. Schluss ist deshalb auch für die Ballgäste von heute. Auch aus einem anderen Grund: Vier Stunden haben die dicken, schwarzgrauen Wolken über dem Stadtzentrum an sich gehalten. Jetzt aber lassen sie’s laufen.