Gemeinsam mit der Polizei verstärken viele Schulen im Kreis Böblingen aktuell ihre Aufklärungsarbeit, darunter auch die Schule, in die der Zehnjährige geht. „Am heutigen Freitagvormittag ist ein Beamter aus dem Referat Prävention in der Schule vor Ort gewesen, um Lehrer, vor allem aber Schülerinnen und Schüler nochmals für die Gefahren durch Fremde in der Öffentlichkeit zu sensibilisieren“, sagt ein Polizeisprecher.
Ob es einen Zusammenhang mit einem am Montag zur Anzeige gebrachten Fall eines achtjährigen Mädchens aus Donaueschingen (Schwarzwald-Baar-Kreis) gibt, ist laut Polizei noch nicht geklärt. Die Frage, ob der 51-jährige Mann auch derjenige ist, der die Achtjährige in Donaueschingen auf der Straße ansprach und in seinen Kleintransporter locken wollte, werde nun gemeinsam mit der Polizei in Konstanz und Ludwigsburg geprüft. Im Gegensatz zum Vorfall in Böblingen wurde das Mädchen nicht gewaltsam in das Auto gezogen. Es konnte nach Hause zu seinen Eltern zurückkehren, diese verständigten die Polizei.
Motiv noch immer unklar
Welches genaue Motiv der 51-Jährige verfolgte, als er den zehnjährigen Jungen in Böblingen in sein Auto zog, werde derzeit ermittelt. Ob der Mann bereits polizeibekannt ist, kommentierten die Beamten nicht. Seit Bekanntwerden des Falls brodelt die Gerüchteküche in den sozialen Medien, was seltsame Blüten treibt. Den Gerüchten, wonach der mutmaßliche Täter in die Freiheit entlassen und die beiden Retter des Jungens wegen Körperverletzung angezeigt wurden, widerspricht der Polizeisprecher vehement.
„Uns ist nicht bekannt, dass der Tatverdächtige die beiden Männer, die eingeschritten sind, um das Kind zu befreien, angezeigt hat wegen einer vermeintlicher Körperverletzung. Das sind Fake News. Ebenso, dass der Mann auf freien Fuß gesetzt wurde“, sagt er. Vielmehr gelte das, was die Polizei in einer Pressemitteilung am Donnerstagmittag veröffentlichte: Der 51 Jahre alte Tatverdächtige wurde nach Vorführung vor dem Haftrichter am Amtsgericht Stuttgart in eine psychiatrische Einrichtung verbracht. Gegen ihn wird wegen versuchter Freiheitsberaubung ermittelt.
Schulen leisten vermehrt Aufklärung
Weil viele Gerüchte in der Bevölkerung analog wie digital umhergehen, zeigten sich viele Eltern besorgt, ob ihre Kinder auf dem Schulweg sicher sind, sagt Anja Sklarski, Gesamtelternbeiratsvorsitzende im Kreis Böblingen: „In den vergangenen zwei Tagen habe ich viele Gespräche mit Eltern geführt. Die Schulen haben in ihrem Rahmen das Thema Schutz von Kindern nun nochmals stärker thematisiert.“ Dabei hätten vor allem Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter, aber auch die Klassenlehrer seit Mittwoch offene Fragen und Unsicherheiten aus der Schülerschaft im Unterricht, aber auch außerhalb des Unterrichts besprochen.
Der Gesamtelternbeirat bietet keine eigene Informationsveranstaltungen zum Thema Schutz von Kindern vor Übergriffen durch Fremde in der Öffentlichkeit, sagt Sklarski. „Die Aufklärung von Schülern über Gefahrenthemen liegt in der Hand der einzelnen Schulen. Diese führen regelmäßig mit der Polizei Präventionsangebote durch“, sagt die im Herbst scheidende Böblinger Gesamtelternbeiratsvorsitzende.
Speziell im Bezug auf den Schutz vor Fremden, die Kinder im öffentlichen Raum ansprechen, werde bereits im Grundschulalter mit Polizei-Präventionsworkshops auf die Gefahren hingewiesen. „Spätestens in der fünften Klasse der weiterführenden Schulen sind Schüler also sensibilisiert worden zu diesem vor allem für Eltern wichtigen Thema“, sagt die Elternvertreterin.
Elterntaxis eher aus praktischen Gründen
Dass weiterhin viele Eltern ihre Kinder mit dem eigenen Auto zur Schule fahren, habe allerdings weniger mit der Sorge vor Übergriffen durch Fremde zu tun, als vielmehr praktische Gründe. „Manche Eltern können sich nicht auf den ÖPNV verlassen und bringen ihre Kinder lieber selbst zur Schule“, sagt Anja Sklarski. Wegen des erschreckenden Vorfalls von Böblingen die Kinder grundsätzlich nicht mehr selbstständig zur Schule laufen oder fahren lassen, davon hält sie wenig. „Wir sollten Kinder trotz mancher Gefahren dazu ermutigen, selbstständig unterwegs zu sein und gewohnte Wege wie zur Schule oder zum Sportplatz selbst zu absolvieren. Das stärkt Kinder eher.“ Angefasst von dem Vorfall ist zwei Tage später auch der Mitarbeiter des Mietlagers im Röhrer Weg, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Er war es, der die Rufe des Zehnjährigen in seinem Büro gehört und die Arbeiter auf der Baustelle alarmiert hat. „Als das Kind um Hilfe geschrien hat, habe ich gemerkt, dass ich eingreifen muss“, sagt er. Er schrie den Bauarbeitern zu, das Auto aufzuhalten und eilte dem Kind zur Hilfe. Gemeinsam mit Arbeiter Zeki Yasik stoppte er den 51-Jährigen , der schon im Begriff war, mit dem Zehnjährigen auf dem Beifahrersitz davonzufahren.
Er gerät in Rage angesichts der vielen Mutmaßungen und Gerüchte, die sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreiten: „Es gab keine Schläge gegen den mutmaßlichen Täter. Und auch die Aufrufe zur Selbstjustiz in den sozialen Medien halte ich für völlig daneben“, sagt er. Keineswegs wolle er den mutmaßlichen Entführer in Schutz nehmen, dessen Ansinnen sei schrecklich gewesen. „Doch mir ist wichtig, dass alle bei der Wahrheit bleiben“, sagt er.
Die Beinahe-Entführung ließ Böblingens Oberbürgermeister Stefan Belz ebenfalls nicht kalt. Er besuchte noch am Donnerstag den Ort des Geschehens und drückte den Helfern seine übergroße Dankbarkeit aus. „Für mich seid Ihr Helden“, schrieb er in einem Online-Posting. Er wolle dem Gemeinderat vorschlagen, die Männer für ihre Zivilcourage zu ehren.