Als Franziskas Mutter im Sommer vor zwei Jahren zu Besuch ist, schickt Franziska ihre Schwester mit ihren Kindern spazieren. Sie sagt: „Mutter, setz dich bitte, trink einen Kaffee. Was ich jetzt sage, wird hart.“ Sie denkt, die Mutter kippt mir sicher gleich aus den Latschen. Franziska fängt so an: „Wir haben einen Geschwistertest gemacht. Ich weiß, dass mein Vater nicht mein Vater ist.“ Die Mutter starrt sie direkt an, so erzählt es Franziska heute. Die Tochter starrt zurück, wartet und sucht. Sieht sie etwas wie Bedauern in den Augen der Mutter? Entsetzen, dass die Tochter herausgefunden hat, was sie offenbar 35 Jahre lang vor ihr verborgen hatte? Doch: nichts. Die Mutter, so erzählt es Franziska heute, zuckt damals mit den Schultern, viel antwortet sie nicht. Franziska ist sprachlos, wie zugefroren kommt ihr die Mutter vor. Franziska fragt: „Wer ist mein Vater?“
Was tust du, wenn keiner dir sagt, wer du wirklich bist?
Das ist die Geschichte von Franziska und ihrer Familie. Oder denen, die sie für ihre Familie hielt. Die Geschichte ist so erzählt, wie Franziska sie erlebt hat, es ist ihre Geschichte. Kinder, die aus einem heimlichen Seitensprung hervorgehen, heißt es, wachsen in einer Welt von Lügen auf. Diese Kinder litten daran oft ein Leben lang. Jeder in der Familie Franziskas würde diese Geschichte wohl ein bisschen anders erzählen. Jeder könnte eine ganze Seite mit dem füllen, was er gesehen und gefühlt hat – wenn er dafür Worte fände. In manchen Familien sitzt das Schweigen mit am Tisch wie ein Gast, der einfach nicht abreisen will. Franziska möchte ihren richtigen Namen und den der anderen in dieser Geschichte nicht nennen, zum Schutz ihrer Kinder. Ihr Name ist der Redaktion bekannt. Wir haben auch mit Franziskas Halbschwester Anna gesprochen und Einsicht in den Gentest der Geschwister bekommen.
I st es normal, sich zu fühlen wie ein falscher Fuffziger?
Sie sei ein von Gefühlen geleiteter Mensch, sagt Franziska jetzt in einem Café in der kleinen Fußgängerzone von Winnenden im Rems-Murr-Kreis. Das liegt auf der Strecke von ihrer Arbeit nach Hause zu ihren Kindern im Kreis Schwäbisch Hall. Franziska nimmt einen Schluck von einer heißen Schokolade. Immer schon habe sie sich die Welt über ihre Gefühle erschlossen, sagt sie, spüre gleich, wenn jemand im Raum sich unwohl fühle oder etwas nicht stimme. Vielleicht, weil sie sich eigentlich ihre ganze Kindheit über so gefühlt habe, sagt sie und schaut tief in den Milchschaum.
Franziska ist noch ein Kind, als ihr das Zuhause bedrohlich kulissenhaft erscheint. Früh hat sie die Idee, sie könne diesen Leuten, die hier wohnten, nicht wirklich angehören. Und so unglaublich das heute klingt: Sie vermutet, ihr Vater sei gar nicht ihr Vater. Die Familie ist vor Franziskas Geburt mit ihren älteren Geschwistern von Stuttgart nach Oberschwaben gezogen, gleich neben das Haus der Großeltern. In ein kleines Dorf, wo jeder jeden kennt. Franziska gilt als schüchternes, unsicheres Kind. „Kann die überhaupt reden?“, sagen die Leute, wenn die Familie mit Franziska, dem Nachzüglerkind, beim Feuerwehrfest auftaucht.
Franziska beginnt als Jugendliche, in einer Bar zu arbeiten, putzt die Häuser der anderen, jobbt beim Kinderschutzbund, ist wenig daheim. Mehr schlecht als recht schafft sie das Abi. Und dann endlich weg von zu Hause.
Wer bist du, wenn nicht die, die du glaubtest zu sein?
„Vielleicht spürt man, wenn man nicht gewollt ist?“, fragt sich Franziska. Kein Selbstbewusstsein habe sie gehabt, sagt sie, fühlte sich schräg im Leben wie vom Wind verbogen. Im Lexikon steht: „Kuckuckskind bezeichnet ein Kind, dessen Vater nicht sein biologischer Vater ist, weil die Mutter es mit einem anderen Mann zeugte und das Kind und seinen sozialen Vater im Glauben ließ, miteinander blutsverwandt zu sein. Der Ausdruck ist abgeleitet vom Kuckucksvogel, der seine Eier in fremde Nester legt (Brutparasitismus).“
2014 offenbarte Drogeriemarktkettengründer Dirk Roßmann in einem Artikel im „Focus“, dass er ein Kuckuckskind ist. Unter der Überschrift „Die Lüge meiner Kindheit“ schilderte Roßmann, wie er an seinem 16. Geburtstag von der Mutter erfahren habe, dass sein biologischer Vater ein Nachbar und Freund der Familie gewesen war. „Ich verbrachte also meine Kindheit im Umfeld des Nichtausgesprochenen, der Lüge“, schrieb Roßmann. Und nach dem Tod des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein 2002 erfuhr der Journalist Jakob Augstein im Alter von 35 Jahren, dass nicht Augstein, wie er bislang glaubte, sondern der Schriftsteller Martin Walser sein biologischer Vater ist.
Lange hieß es, 10 oder gar 20 Prozent der Kinder seien Kuckuckskinder. Doch vor einigen Jahren zeigte eine Studie aus Belgien, die auf Daten aus den vergangenen 500 Jahren zurückgriff, dass es wohl nur ein bis zwei Prozent sind.
Diese Fremdheit in dir
Franziska beginnt nach der Schule eine Ausbildung in einem Restaurant in München. Aber glücklich wird sie nicht. Einmal hört sie, wie jemand sagt: „Da läuft das Tellertaxi.“ Franziska kündigt und fliegt mit einem One-Way-Ticket nach Australien. Es ist eine Flucht nach vorne. Erst ein halbes Jahr später traut sie sich zu studieren, glaubt daran, dass sie es schaffen kann, kehrt nach Deutschland zurück, schuftet an der Uni, schließt schnell nacheinander Bachelor und Master ab. Franziska ergattert einen gut bezahlten Job bei einem Automobilzulieferer in der Personalabteilung. Nach der Geburt ihres ersten Kindes geht sie nur kurz in Elternzeit. Schnell kommt noch ein zweites Kind.
Es ist ein Leben im Dauerlauf. Und im Hintergrund flimmert der Film ihrer Kindheit, ein Rauschen wie früher der Fernsehschnee nach Sendeschluss. Diese Fremdheit in ihr. Franziska sucht nach einem Beweis für das Gefühl, anders zu sein. Sie habe Franziskas Befürchtungen, einen anderen Vater zu haben, nie ernst nehmen können, erzählt ihre Halbschwester Anna. Franziska hat mit ihren dunklen Augen und Haaren so gut in die Familie gepasst, sagt sie, das habe doch jeder gesehen. Anna mit blauen Augen und blonden Haaren hingegen nicht. Hätte sie nicht viel eher glauben können, nicht dazuzugehören? Anna sagt: „Jeder kennt das Gefühl, der eigenen Familie hin und wieder fremd zu sein, dahinter muss nicht unbedingt etwas Tieferes stehen.“
Franziska lässt nicht locker. Anna stimmt dem Geschwistertest zu. Wenn es der Schwester so wichtig ist, warum nicht? Als der Brief des genetischen Labors im Kasten liegt, öffnet Franziska ihn zusammen mit ihrem Mann. Der ist fassungsloser als sie selbst, erzählt Franziska, nachdem er schwarz auf weiß liest: Franziska und Anna sind nur Halbgeschwister.
Als der russische Schriftsteller Tolstoi in „Anna Karenina“ schrieb, alle glücklichen Familien ähneln einander und alle unglücklichen sind auf ihre Art unglücklich, konnte er sich wohl nicht vorstellen, wie oft er später noch zitiert werden würde. In der Mannigfaltigkeit des Unglücks finden sich Millionen Arten von Einsamkeit.
Was können wir überhaupt erwarten zu erfahren?
Gefragt, warum sie all die Jahre lang niemandem etwas gesagt habe, antwortet die Mutter: „Was hätte ich tun sollen? Dann allein mit drei Kindern auf der Straße stehen?“ Die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von Männern hat weitreichendere Folgen, als sich das manche auf den ersten Blick vorstellen können. Franziskas leiblicher Vater, stellt sich heraus, ist für Franziska kein Unbekannter. Es ist ihr Cousin und Taufpate, der Neffe ihres Ziehvaters.
Die Mutter war 32, Andreas 24, als Franziska entstanden ist. Andreas wohnte im gleichen Ort, kam oft vorbei. Franziskas Mutter sagt ihr kaum etwas darüber. Andreas erzählt Franziska später, seine geheime Beziehung zu ihrer Mutter sei neun Jahre gegangen, und die Mutter habe Franziska abtreiben wollen. Nur unter der Bedingung, dass er Franziska nie die Wahrheit sagen würde, habe die Mutter sie bekommen. Franziska glaubt Andreas. Als sie ihm zum ersten Mal schreibt, antwortet er gleich, zeigt sich aufgeschlossen. Sein eigenes Leben ist in Schräglage geraten, früher studierte er Informatik, heute sei er arbeitslos, sagt Franziska. Außer ihr habe er noch zwei Söhne, aber keinen Kontakt mehr zu ihnen.
I n deinen Augen rauscht die Einsamkeit
Anna sagt, sie wolle der Mutter keine Vorwürfe machen, und sucht nach Erklärungen. Auch in der Biografie der Mutter, die 1969 im Alter von 15 Jahren mit ihren Eltern aus Osteuropa geflohen sei. Erst hinter der Grenze habe die Mutter erfahren, dass das kein Urlaub, sondern eine Flucht gewesen sei und sie nicht mehr zurück gekonnt hätte.
Auch sie sei belogen worden. Betrogen um eigene Entscheidungen, um ein Leben, das anders hätte verlaufen können. Die Lüge gebiert neue Lügen. Und das Gegenteil des Schweigens wird zu einer fremden Sprache, die keiner beherrscht.
Erst vor einem halben Jahr habe die Mutter auf Franziskas Drängen hin auch ihrem Mann die Wahrheit gesagt, erzählt Franziska: „Deine Tochter ist nicht deine Tochter.“ Noch kaum einer in der Familie habe bisher mit ihm darüber geredet. Die Angst, einander zu verletzen, ist so groß, als trügen alle das Herz ganz dicht unter gläserner Haut. Allein einander zu sehen ist wie Wind, der über offene Wunden streicht.
Franziska wünscht sich Kontakt zu Menschen, die Ähnliches erlebt haben, vor allem, weil sie wissen will: Ging es ihnen auch so, dass sie etwas vermutet haben? Erreichbar ist sie unter kuckuckskind.k@gmail.com