Nach dem Tod der vergewaltigten Studentin schwelt der Zorn in der indischen Bevölkerung und den Medien des Landes weiter. Unsere Korrespondentin Christine Möllhoff berichtet aus Neu-Delhi.

Delhi - Bis heute kennt niemand ihren Namen. Doch ihr unfassbares Leid hat Indien so erschüttert, dass tagelang Tausende auf die Straße gingen. Am frühen Samstagmorgen hat die 23-jährige Medizinstudentin, die von sechs Männern vergewaltigt und gefoltert wurde, den Kampf um ihr Leben verloren, 13 Tage nach der Horrortat. Am Sonntag wurde ihr Leichnam in Delhi eingeäschert. Ihren Peinigern droht die Todesstrafe. Mit Schweigemärschen, Kerzenlichtern, mit Gebeten und Gesängen erwiesen die Demonstranten der jungen Frau die letzte Ehre.

 

Indien steht unter Schock. „Ein Land trauert”, titelte „The Hindu“. Die „Hindustan Times“ widmete ihre ganze erste Seite in eine Traueranzeige um. „Sie entzündete eine Flamme.“ Sonia Gandhi, die Chefin der regierenden Kongresspartei, wandte sich im Fernsehen an die Bevölkerung: „Ihr Kampf wird nicht umsonst gewesen sein”, versicherte sie und sagte besseren Schutz für Frauen zu: „Eure Stimmen sind gehört worden.” Auch Bollywood zeigte sich geschockt. „Weine, Indien. Deine Hände sind getränkt mit dem Blut deiner eigenen Töchter”, schrieb der bekannte Regisseur Mahesh Bhatt. Der Superstar Shah Rukh Khan meinte: „Vergewaltigung verkörpert Sexualität, wie unsere Kultur und Gesellschaft sie definiert. Ich schäme mich, Teil dieser Gesellschaft und Kultur zu sein.”

In Delhi sind die Proteste abgeflaut, aber der Zorn schwelt weiter. Das Schicksal der jungen Frau ist zum Symbol nicht nur für die verbreitete Gewalt gegen Frauen, sondern auch für den Kampf gegen ein verrottetes System geworden, das die Mächtigen schützt und die Schwachen schutzlos lässt. Die Ereignisse hätten die „Fäulnis im Herzen von Indiens politischem System” offengelegt, schreibt der Kolumnist Meghnad Desai. Und die Zeitung „Mail Today“ kommentiert: „Die Jugend dieses Landes ist wütend. Ob Korruption, Recht und Ordnung oder Staatsleistungen – die Jungen fühlen sich von ihren gewählten Repräsentanten hoffnungslos verraten.”

Aus Angst vor Unruhen und Massenprotesten verschanzte sich die Politik hinter Barrikaden. Das Regierungsviertel in Delhi glich am Wochenende einer Festung und war weiträumig abgesperrt. Zehn Metrostationen wurden geschlossen. „Es scheint, dass sie Angst vor ihrem eigenen Volk haben”, meinte die 19-jährige Neha, die sich mit einem Tuch vermummt hat, um nicht erkannt zu werden. „Meine Eltern haben mir verboten, hierher zukommen. Aber wir können nicht länger schweigen.”

Die Bestialität der Tat hat das Land traumatisiert. Das Ausmaß der Gewalt spricht von unbändigem Hass auf Frauen. Die 23-jährige war am 16. Dezember in einem fahrenden Bus vor den Augen ihres Freundes von sechs Männern vergewaltigt und dann mit Eisenstangen mit unmenschlicher Grausamkeit gefoltert worden. Danach wurden beide wie Müll auf die Straße geworfen. Der Freund kam mit Verletzungen davon. Die Wunden des Mädchens machten selbst die Ärzte fassungslos.

Die 23-jährige musste drei Mal im Unterleib notoperiert werden, dabei entfernten die Ärzte den gesamten Darm. Dennoch breitete sich eine Infektion aus. Am Mittwoch erlitt sie laut Medien zwei Herzattacken, bei denen es zu schweren Hirnschäden kam. Trotzdem wurde das sterbende Mädchen noch in eine Klinik nach Singapur geflogen. Um einen letzten Versuch zu unternehmen, sie zu retten, sagt die Regierung. Um die Proteste abzumildern, wenn sie stirbt, sagen Kritiker.

Die Tat hatte im ganzen Land eine beispiellose Protestwelle ausgelöst. An der Spitze standen Studentinnen und Studenten, die künftige Mittelschicht, die ein neues Indien fordert. Politik und Polizei hatten den Unmut völlig unterschätzt. Über Tage schwieg die Regierung. Die Polizei setzte Knüppel, Tränengas und Wasserwerfer ein. Politiker versuchten, die Demonstranten als Volksfeinde darzustellen. Tatsächlich richten sich die Proteste auch gegen das Versagen des Staates, der Polizei und der Justiz. Gewalt gegen Frauen ist in Indien allgegenwärtig, so dass die Autorin Arundhati Roy von einer „Kultur der Vergewaltigung” spricht. Alle 20 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt. Das sind nur die gemeldeten Zahlen. Zudem werden vergewaltigte Frauen geächtet. Wenn sich die Opfer zur Polizei wagen, droht ihnen oft ein neuer Albtraum. Die Fälle, die vor Gericht kommen, ziehen sich über Jahre hin, bis die Opfer aufgeben. 100 000 Vergewaltigungsfälle sollen anhängig sein. Drei von vier Tätern werden freigesprochen.

Die Politik hat schnelle Prozesse versprochen, um die sechs Peiniger der 23-jährigen zu verurteilen. Das ändert wenig an den strukturellen und gesellschaftlichen Missständen. Viele Frauen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür, selbst am Tag werden sie auf offener Straße, in Bussen und Bahnen begrabscht und angepöbelt.