Das Land der Herzlichkeit hat ein Gewaltproblem: Auffallend häufig werden dunkelhäutige Frauen von ihren Ex-Männern ermordet. Schauplatz der Gewalt sind vor allem die Kleinstädte.

Rio de Janeiro - José hatte den ganzen Tag über getrunken. In der Nacht stieg er in die Wohnung seiner 38-jährigen Ex-Frau Ana Paula Nobre und brachte sie mit 29 Messerstichen um. Die 13-jährige Tochter wurde Zeugin der Bluttat, ebenso wie der ältere Sohn, der zwei Messerstiche abbekam, als er die Mutter zu verteidigen versuchte. So stellt die Polizei den Ablauf des Verbrechens dar. José gelang die Flucht.

 

In die Statistiken, die einer schreckenerregenden neuen Studie über Morde an Frauen in Brasilien zugrunde liegen, ist diese Bluttat noch gar nicht eingegangen. Ana Paula Nobre starb erst am vergangenen Wochenende. Aber der Fall, der in Brasilien wie so viele ähnliche kaum Schlagzeilen gemacht hat, folgt genau dem Muster der tödlichen Gewalt gegen Frauen, das die Studie des renommierten Gewaltforschers Julio Jacobo Waiselfisz herausarbeitet. Ana Paula hatte dunkle Hautfarbe – und schwarze oder dunkelhäutige Brasilianerinnen werden überdurchschnittlich häufig zum Opfer tödlicher Gewalt.

In den Vierteln der Weißen patrouilliert mehr Polizei

In Brasilien werden von 100 000 Frauen 4,8 ermordet – damit liegt Brasilien weltweit, nach El Salvador, Kolumbien, Guatemala und Russland, an fünfter Stelle. Allerdings liegt die Quote bei dunkelhäutigen Brasilianerinnen bei 5,4, bei weißen dagegen bei 3,2. Und die Schere hat sich seit 2003 geöffnet. Die Zahl der Morde an weißen Frauen ist bis 2013 – neue Zahlen liegen nicht vor – um 9,8 Prozent gesunken, die der Morde an schwarzen um 54,2 Prozent gestiegen. Waiselfisz führt das auch auf unterschiedliche Sicherheitsniveaus zurück: In den von Weißen bewohnten Vierteln patrouilliert mehr Polizei.

Wie im Fall Ana Paula Nobre geschehen 55,3 Prozent der Bluttaten an Frauen im häuslichen Bereich – anders als bei männlichen Opfern, die viel häufiger auf der Straße ums Leben kommen. Ein Drittel aller tödlich verlaufenden Gewalt an Frauen wird, genau wie bei Ana Paula, von Ex-Partnern verübt. Und schließlich sind kleinere Städte, relativ betrachtet, häufiger Schauplätze von Morden an Frauen als die Millionen-Metropolen. Ana Paula starb in Colônia de Piauí, einem Kaff von knapp 8000 Einwohnern im Nordosten Brasiliens. Lediglich durch die Tatwaffe unterscheidet sich der Tod der 38-Jährigen vom Grundmuster. Die Hälfte aller Morde an Frauen werden mit Schusswaffen verübt, Messer liegen erst an zweiter Stelle.

Von wegen Rassen-Demokratie

Brasilien rühmt sich klassischerweise, eine Rassen-Demokratie zu sein, weil es, jedenfalls seit Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888, nie eine formelle Rassentrennung gab. Aber männliche Dunkelhäutige werden genauso wie weibliche überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalt – für Waiselfisz der Beleg dafür, dass die Behauptung, die brasilianische Gesellschaft sei nicht rassistisch, „eine falsche Mythologie“ ist.

Auch die in der Soziologie ebenso wie im Alltagsleben vertretene These von der brasilianischen Herzlichkeit – cordialidade – wird durch das Gewaltniveau zunehmend in Frage gestellt. Im Jahr 2012 kamen in Brasilien 56 337 Personen gewaltsam ums Leben – das sind 29 von 100 000 Brasilianern. In Deutschland liegt der entsprechende Wert bei 0,9. Während in Brasilien die Leichen gezählt werden, erfasst die deutsche Statistik jedoch die Verfahren wegen Tötungsdelikten, also auch Mord- und Totschlagsversuche – Taten, bei denen das Opfer mit dem Leben davonkam. Diese machen etwa die Hälfte der Verfahren aus, sodass sich ein mit der brasilianischen Statistik vergleichbarer Wert von 0,45 Gewaltopfern auf 100 000 Bewohner ergäbe.