Es ist einer dieser Tage, der sich ins kollektive Gedächtnis einer Stadt brennt, wie der Schwarze Donnerstag, als der Protest um S 21 eskalierte, wie die Stuttgarter Krawallnacht im Sommer 2020. Und es ist einer jener Tage, an denen erst allmählich klar wird, wie schlimm es ist, was gerade passiert. Es beginnt am frühen Nachmittag mit ersten Gerüchten über kleinere Ausschreitungen in Bad Cannstatt. Aber kurze Zeit später ist schon von zehn verletzten Polizisten die Rede. Dann die Meldung: Die Polizei zieht aus dem Land massive Verstärkung heran. Die ersten Videos tauchen auf, Augenzeugenberichte. „Das ist hier wie im Krieg.“
Wie schlimm es war, lässt sich an nackten Zahlen ablesen: 27 Polizisten sind am Samstag bei Krawallen am Römerkastell verletzt worden, teilweise schwer. 300 Beamten waren im Einsatz. 228 Personen wurden festgenommen. Wie schlimm es war, lässt sich auch erahnen, wenn man auf die Tatwerkzeuge blickt, die die Polizei am Sonntag präsentiert. Mit Eisenstangen haben die Angreifer auf Polizisten eingeschlagen, offenbar gezielt gegen Köpfe, denn mehrere Beamte mussten mit Kopfprellungen behandelt werden. Mit Holzlatten, in denen Nägel steckten. Mit Steinen. „Das Ausmaß und die Intensität der Gewalt hat uns völlig überrascht“, sagt der Polizeivizepräsident Carsten Höfler. „Wir sind zum Prellbock geworden in einem ethnischen Konflikt.“
In einem Konflikt unter Eritreern, der nun auch in Deutschland ausgetragen wird. Beide Konfliktparteien haben ihre Wurzeln in Eritrea, dem krisengebeutelten Land im Nordosten von Afrika mit einem diktatorischen Regime an der Spitze. Die eine Seite besteht aus regimetreuen Eritreern. 80 von ihnen haben sich am Samstag zu einer Veranstaltung im Römerkastell getroffen, nicht zum ersten Mal, bislang war es stets friedlich geblieben. Die andere Seite: mehr als 200 regimekritische Eritreer, die gegen Mittag plötzlich in Bad Cannstatt auftauchen und die Versammlung ihrer politischen Gegner stürmen wollen. Und wahllos auf Polizisten losgingen, als ihnen das nicht gelang.
Hätte man das ahnen können? Auch in anderen Städten, etwa in Gießen, war es zuletzt im Umfeld ähnlicher Veranstaltungen zu massiven Auseinandersetzungen gekommen. Trotzdem ist die Stuttgarter Polizei nur mit 20 Beamten vor Ort, als gegen 13.30 Uhr die Lage eskaliert. Die regimekritischen Eritreer strömen in Gruppen zum Römerkastell, werfen Steine, Stühle, während sich in der Halle ihre politischen Gegner verschanzen und um ihr Leben fürchten. Die Gewalt, bestätigt die Polizei, ging ausnahmslos von den Regimegegnern aus.
Nach und nach trifft immer mehr Polizei ein, das Gebiet wird weiträumig abgesperrt, eine Reiterstaffel drängt die Schaulustigen zurück. Immer wieder kommt es in den Seitenstraßen zu Scharmützeln, einzelne Eritreer flüchten vor der Polizei, Polizisten mit Hunden durchkämmen das Umfeld. Brenzlig wird es noch einmal, als es einer größeren Gruppe gelingt, sich unweit des Kastells zu sammeln – offenbar wollen sie einen neuen Angriff wagen. Man habe „zurecht robust“ mit dem Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray reagiert, so Höfler. Auch 21 Krawallmacher werden am Samstag verletzt.
Am frühen Abend, rund 300 Einsatzkräfte sind inzwischen vor Ort, hat die Polizei die Lage unter Kontrolle und nahezu alle Gewalttäter vor dem Römerkastell eingekesselt. Es wird bis nach Mitternacht dauern, bis alle 228 Verdächtigen erkennungsdienstlich behandelt und abgeführt sind. Es handelt sich überwiegend um Männer aus Eritrea, die im Stuttgarter Umland leben, dazu kommen 63 Eritreer mit Wohnsitz in der Schweiz. Gegen alle wird jetzt wegen schweren Landfriedensbruchs, schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahls ermittelt. Die Polizei hat, um die Vorgänge aufzuklären, eine 15-köpfige Ermittlungsgruppe ins Leben gerufen. Wer sich so verhalte, habe seiner Meinung nach sein „Gastrecht in Deutschland verwirkt“, sagt der Oberbürgermeister Frank Nopper am Sonntag. Es sind Sätze, die Politiker oft sagen nach Vorfällen wie diesem. Politiker aller Couleur überbieten sich am Sonntag mit Forderungen nach harten Konsequenzen. Auch das ist nichts Neues, aber schon am Samstag, auf der Straße, deutet sich an: Dieser Tag wird nicht spurlos an Stuttgart vorüber gehen.
Er sei in keiner Weise Rassist, sagt ein fassungsloser Beobachter, er sei tolerant, er wolle nicht populistisch klingen. „Aber wenn man das hier sieht, dann muss ich sagen: Mit Kuschelkurs kommt man da nicht weiter.“ Ein anderer junger Mann beobachtet aus einer Kneipe heraus, wie die Polizisten gerade die Randalierer zurückdrängen. Er hat türkische Wurzeln, wie fast alle Männer, die um ihn herum stehen. „Stuttgart war immer so eine friedliche Stadt“, sagt er. „Aber irgendwas ist in den vergangenen Jahren passiert. Ich weiß nicht was. Aber so kann es jetzt nicht weiter gehen.“