Der Ministerpräsident hat überraschend einen Gesetzentwurf zur Inklusion behinderter Menschen von der Tagesordnung des Kabinetts gestrichen. Dabei hatten ihn die Ministerien bereits abgezeichnet. Auch Kretschmanns Grüne waren dafür und sind jetzt irritiert.

Stuttgart - Die Fraktionen – die grüne wie die rote – sind konsterniert, der Landesbehindertenbeauftragte „tobt“ Berichten verschiedener Vertrauter zufolge, das Sozialministerium ist fassungslos und schuld ist der Ministerpräsident. Winfried Kretschmann (Grüne) hat sie alle vor den Kopf gestoßen. Kurzerhand hat der Regierungschef den fix und fertigen Gesetzentwurf zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen von der Tagesordnung des Kabinetts nehmen lassen.

 

Der sieht vor, dass die 44 Stadt- und Landkreise hauptamtliche Behindertenbeauftragte einstellen. Die Kosten trägt das Land. Das Geld, rund 2,8 Millionen Euro, ist schon in der Finanzplanung berücksichtigt. Städten und Gemeinden dagegen ist es freigestellt, ob sie Behindertenbeauftragte im Haupt- oder im Ehrenamt einstellen. Für sie ist eine Soll-Vorschrift vorgesehen.

Im Sozialministerium ist man regelrecht stolz auf die Vorlage. Die hauptamtlichen Strukturen auf Kreisebene hätten bundesweit zu einer Blaupause für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention werden können, schwärmt der Sprecher von Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD). Die Behindertenverbände hätten das Vorhaben positiv kommentiert, die Grünen hätten das „mustergültige Gesetz“ eines der besten genannt, das je aus einem roten Haus gekommen sei. In einer Koalition, die sich nicht gerade durch Großherzigkeit gegenüber dem jeweiligen Partner auszeichnet, ist das durchaus bemerkenswert.

Überraschender Beratungsbedarf

Dann zog der Ministerpräsident die Notbremse, aus heiterem Himmel, wie vielen Abgeordneten scheint. Kretschmann macht Beratungsbedarf geltend, ob das Land verpflichtend Behindertenbeauftragte verlangen solle. „Das zuständige Ressort wird das prüfen, das ist ein ganz normaler Vorgang“, spielte der Regierungschef den Affront herunter.

Dass es sich um eine Retourkutsche an die SPD handelte, die ihn mit der Forderung nach einem vorgezogenen Schuldenstopp im Jahr 2016 düpiert hatte, wies der Ministerpräsident von sich: „Dass eine Vorlage nicht beschlussreif ist, entscheide nun mal ich. Das ist ganz normal. Dahinter steckt erst mal gar nichts“, sagte Kretschmann vor Journalisten. Allerdings gilt er nicht als Freund von Beauftragten aller Art.

Beratungsbedarf sehen die zuständigen Sozialpolitiker von SPD und Grünen gar nicht. Rainer Hinderer, der Sozialexperte der SPD, verweist auf Nachfrage darauf, dass Grün-Rot die Behindertenbeauftragten in den Koalitionsvertrag aufgenommen habe und seit mehr als einem Jahr „auf allen Ebenen sehr einvernehmlich verhandelt“ habe. Dass da noch Stolpersteine kommen, das hätte der Sozialdemokrat Hinderer nicht erwartet, „am wenigsten vom Koalitionspartner“. Gerade die Grünen hätten doch darauf gedrungen, die Übergangsphase von ehrenamtlichen zu hauptamtlichen Behindertenbeauftragten sogar von fünf auf zwei Jahre zu verkürzen.

Fraktionen und Ministerien sind dafür

Die Fraktionen hätten sich über den Gesetzentwurf ebenso abgestimmt wie die Ministerien. Auch das Staatsministerium habe die Vorlage abgezeichnet, heißt es übereinstimmend. Staatsministerin Silke Krebs (Grüne) dagegen meldet jetzt Klärungsbedarf vonseiten der Regierung wie auch der Grünen Fraktion an. Einig seien sich lediglich die Sozialpolitiker der Fraktionen gewesen, sagte die Ministerin am Rande einer Fraktionssitzung der Grünen.

Die Sozialpolitiker ringen um Fassung und um Diplomatie. Hinderer sagt, der Ministerpräsident könne ja nicht über alle sozialen Themen informiert sein. „Wenn der Gesetzentwurf in einer Woche abgestimmt wird, ist es auch recht“. Auch in den eigenen Reihen ruft der Regierungschef Unmut hervor. Doch man hält sich zurück. Mit bemühter Zurückhaltung tut der grüne Inklusionsexperte Thomas Poreski schriftlich kund: „Was im Kabinett diskutiert wird, ist Sache der Regierung.“ Grundsätzlich gelte für grün-rote Politik, man müsse sich die notwendige Zeit nehmen, Fragen zu klären.

Ministerium erwartet Änderungswünsche

Die Fraktionen sind indes mehr als irritiert. Zumal die Staatsministerin Silke Krebs unlängst erklärt hatte, ohne Abstimmung mit den Fraktionen könnten keine Vorlagen ins Kabinett gehen. Der Ministerpräsident will nichts davon wissen, dass er sich darüber hinweg gesetzt haben könnte. Die Position seiner Fraktion in der Frage der Behindertenbeauftragten sei ihm im Detail nicht bekannt geworden, sagte er am Dienstag. Die Grünen wollen wohl in der kommenden Woche das Thema erneut aufrufen. Katrin Altpeter lässt erklären: „Wer Änderungswünsche hat, soll sie dem Sozialministerium vorlegen, nachdem sie mit den Fraktionen abgestimmt sind“. Das Ministerium selbst sieht keinen Grund zu Nachbesserungen.