Selbst die traditionsverliebten Briten setzen immer mehr auf Google Maps. Darunter leiden zwei Institutionen ganz besonders: die ehrwürdige Buchhandlung Standfords und die Kartenhersteller der „Ordance Survey“, schreibt unser Korrespondent Peter Nonnenmacher.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Stanfords ist eine berühmte Buchhandlung in London und ist eine Institution für Kartenliebhaber. Mr. Livingstone und Scott, der Antarktis-Forscher, pflegten in diesem Geschäft ein und aus zu gehen. Sogar ein Besuch von Sherlock Holmes ist dokumentiert bei der Buchhandlung im Herzen Londons: In Sir Arthur Conan Doyles „Hund von Baskerville“ besorgt sich der berühmte Detektiv dort geeignetes Kartenmaterial. Stanfords wurde 1853 gegründet und beansprucht bis heute, der größte Spezialist der Welt für Landkarten, Stadtpläne, Atlanten und Reisebücher aller Art zu sein.

 

Drei Stockwerke des Ladens auf Long Acre bei Covent Garden sind vollgestopft mit Informationen über London und den Rest der großen, weiten Welt. Seit ein paar Jahren freilich hat diese Insel-Institution ernste Probleme. Der Kartenverkauf ist drastisch eingebrochen, Stanfords kommerzielle Basis wankt. Im Zeitalter von Google Earth, Streetview und Multimap fragen immer weniger Kunden nach kartografischem Material. Um rund ein Drittel ist der Absatz von Straßenkarten und Atlanten in den letzten drei bis vier Jahren gefallen. Kostenloses Googeln von Plätzen und Routen, aber auch bequeme Technologie fürs Auto machen den Erwerb gedruckter Karten und Faltpläne – und damit den Gang in die Buchhandlungen – überflüssig.

Junge Briten können keinen Karten mehr lesen

Betrüblich finden diese Entwicklung Leute wie Roger McKinley. McKinley ist Präsident des Königlichen Instituts für Navigation. Viele junge Briten hätten absolut keine Ahnung mehr, wie eine Karte zu lesen sei, und wie sie sich aus eigener Kraft zurecht finden könnten, klagt McKinley: „Diese Fähigkeiten werden tragischerweise durch die zunehmende Nutzung von Satellitennavigations-Geräten und Mobiltelefonen ausgehöhlt.“ Von einer regelrechten „Betäubung durch Software“ spricht der Instituts-Präsident bitter. Die Jugend sei verloren im Raum, „lost in space“.

Die Digital-Expertin Sarah Shearman schätzt die Lage dagegen nicht so düster ein: „Heute beschäftigen sich die Leute mit Karten eben auf andere, gänzlich neuartige Weise.“ Auch das trage zu Raumgefühl und zu immer neuen Entdeckungen bei. Al Gore, der Ex-US-Vizepräsident, hatte bekanntlich schon früher einmal geschwärmt, geografische Orientierung im Internet sei wie ein „Trip auf einem Fliegenden Teppich“, über ein digitales Universum hinweg.

Digitale Erkundungstouren für Sesselhocker

Wanderer und Faltkarten-Fans auf der Insel sprechen dagegen abfällig von „digitalen Erkundungstouren für Sesselhocker“. Für Kartennutzer, die an bedrucktem Papier hängen, sind die vertrauten „Maps“ wesentlich besser, detaillierter, übersichtlicher und verlässlicher als die schnelle Ware grobflächigerer Karten von Google & Co. Die digitalen Produzenten von raumbezogener Apps hingegen sehen in der moderneren Form der Orientierungshilfe die Zukunft. In ihrem Urteil wird die neue Technologie das Print-Erbe nach und nach ablösen. So wie einst, vor langer Zeit, einmal die Lithografie den alten Kupferstich verdrängt hat. Schon jetzt lassen sich im Web Freunde orten, soziale Verknüpfungen herstellen, Straßen visuell besuchen oder auf unmittelbar aktualisierten Karten zum Beispiel die Verbreitung von Krankheiten in bestimmten Weltgegenden verfolgen.

Riechen, was die Karten sagen

In Zukunft, meint der Londoner Geschichtsprofessor Jerry Brotton, werde man „noch sehr viel genauere, zunehmend interaktive und auf den Benutzer zugeschnittene“ Straßen- und Landkarten aus dem Web zu sehen bekommen: „Irgendwann wird wahrscheinlich auch der grafische Bildschirm anderen Formen erweiterter Realität Platz machen. Dann werden wir hören, riechen und sogar berühren können, was die Karten uns zeigen.“

Wieviel Umbruch diese Entwicklung im alten Königreich der Forscher, Abenteurer, Seeleute und Kolonialisten verursacht, ist an einer anderen großen britischen Institution abzulesen: dem „Ordnance Survey“ (OS), dem Landesvermessungsamt Britanniens. Fast 225 Jahre alt ist der OS. Sein Kartenschatz soll der detaillierteste und umfangreichste der Welt sein. Hunderte von Kartografen arbeiten für das Ordnance Survey, teils durchs Land marschierend und teils in Flugzeugen, aus der Luft.

Karten gehören zum kulturellen Vermächtnis

Mit seinen schönen, maßstabsgetreuen Karten, in feinen Wasserfarben und voll sorgsam gewählter Symbole, gehört das OS-Opus zum großen kulturellen Vermächtnis des Königreichs. Ihre imperiale Geschichte ebenso wie die Liebe zur heimischen Landschaft mag den besonderen Enthusiasmus der Briten für Karten erklären. Was die Geschichte betrifft, waren die OS-Ursprünge ja tatsächlich militärischer Art. Die Obrigkeit in London begann sich für Kartografie zu interessieren, als im 18. Jahrhundert die Schotten rebellierten. Zur Abwehr von Feinden aller Art wurden präzise Karten gebraucht. Den Süden Englands fing man an zu vermessen, als eine Invasion Napoleons befürchtet wurde. Viel später, in der Ära der Weltkriege, liefen die OS-Druckerpressen auf Hochtouren. 400 Millionen Karten sollen allein im Zweiten Weltkrieg produziert worden sein.

All die Jahre aber bildete der „Ordnance Survey“ zugleich die Grundlage für Straßenatlanten, Wanderkarten, Stadtpläne, kommunale Planungsvorhaben. Das Copyright lag beim Staat – weshalb vor noch nicht allzu langer Zeit Schulkinder, die eine OS-Karte für eine Hausarbeit fotokopieren wollten, bei der örtlichen Bücherei schriftlich Erlaubnis einholen mussten.

Neue Zielgruppen werden gesucht

Solch antiquierten Praktiken und der dominanten Rolle der amtlichen Kartenherstellung, hat das Internet ein Ende gesetzt. Inzwischen sah sich der OS gezwungen, sein Material zum Online-Abruf freizugeben. Bedrängt von Google und anderen, versucht der „Ordnance Survey“ – jetzt teilprivatisiert – neue Zielgruppen zu erreichen. Wobei globale Konzerne wie Google natürlich weit größere Ressourcen ins Feld führen als der alte nationale Vermessungsbetrieb.

Karten sind beliebt – als Wandschmuck

Christopher Board von der Gesellschaft fürs Kartenstudium in England hält eine aus öffentlichen Mitteln finanzierte Karten-Produktion für unerlässlich: „Wenn man das Geschäft der Privatindustrie überlässt, gibt es nur noch Karten der populärsten Urlaubsgebiete – während riesige Bereiche von Agrarland, Moorgebieten oder Pachtland unberücksichtigt bleiben.“

Derweil zeugen immer neue Ausstellungen und Publikationen von einer wachsenden Karten-Nostalgie. Selbst Kaufhausketten wie John Lewis melden plötzlich kräftigen Aufschwung beim Verkauf von Karten. Karten allerdings, die keinem anderen Zweck dienen als dem, vom Käufer schön gerahmt daheim als Zimmerdekor verwendet zu werden. Als schmückender Wandbehang werden die wertvollen alten Wegweiser immer populärer. Zur eigenen Fortbewegung verlässt sich die Nation lieber auf den Bildschirm in der Hand.