Und was wäre ohne den Mauerfall anders gelaufen?
Gysi: Wäre die Wende nicht gekommen, wäre ich wohl noch ein paar Jahre Vorsitzender des Rechtsanwaltskollegiums Berlin und Vorsitzender des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR geblieben – ein unmöglicher Titel, den ich jetzt gar nicht erklären will. Ich glaube auch, das Leben hätte sich immer stärker verrechtlicht, das heißt, immer mehr Bereiche wären Gegenstand einer besseren DDR-Rechtsprechung geworden. Da bewegte sich durchaus ein bisschen was. Was ich allerdings überhaupt nicht sehe ist, wie die DDR ihre ökonomischen Probleme hätte lösen können. Die wurden immer mehr.
Und die politischen Verhältnisse?
Gysi: Die Oberen der DDR begriffen nicht, dass einer der sehr vielen Nachteile einer Diktatur das Fehlen des demokratischen Wechsels ist. Dadurch kam Erich Honecker Anfang der fünfziger Jahre ins Politbüro und wäre 1990 glatt nochmal zum Generalsekretär der SED bestimmt worden. Diese Politikerklasse setzte ihre Methoden fort, obwohl es völlig neue Generationen in ihrem Land gab. Die dachten und fühlten ganz anders. Für mich spielte FDJ in meiner Jugend eine wichtige Rolle. Mein Sohn hat das gar nicht mehr so ernst genommen. Er lebte in einer anderen Zeit. Nur, von der bekamen die älteren Herren kaum etwas mit. Sie beließen vieles so, wie es immer war. Einflüsse von unten und von außen kamen kaum an die Machtzentrale heran. Auch deshalb musste die DDR zusammenbrechen. Dem System fehlte am Ende sowohl die Kraft, bestimmte Dinge zu verbieten und zu unterbinden als auch zu erlauben.
Haben Sie „ostalgische“ Momente, in denen Sie sich an etwas aus DDR-Zeiten zurücksehnen, das es nicht mehr gibt?
Gysi: Ich kann Ihnen das genau sagen: das Zusammengehörigkeitsgefühl. Diese vielen Feste, die man feierte. Auch nach jeder Parteiversammlung sind wir in einer kleinen Gruppe essen gegangen und haben uns vergnügt. Wir haben uns immer etwas einfallen lassen. Das zerfasert heute alles. Keiner hat mehr Zeit. Eine geschlossene Gesellschaft hat viele Nachteile. Aber ein Vorteil ist, dass man aufeinander angewiesen ist. Alles war ein Beziehungsgeflecht. Zum Beispiel hatte ich meine Kfz-Werkstatt rechtlich vertreten. Im Gegenzug wurde mein Auto repariert. So lief es. Aber natürlich gab es auch Momente, in denen mir das ziemlich auf die Nerven ging. Etwa, dass ich mich in Gaststätten nicht hinsetzen konnte, wo ich wollte, sondern dass ich platziert wurde.
Den Verlockungen des Westens sind sie nie erlegen?
Gysi: Doch. In Paris hat mir alles gefallen. Der Schuhladen, der Käseladen mit über 300 Sorten, die Cafés, es gab eine Demo, da schimpften sie wie wild auf die Regierung. Das bereitete mir alles größtes Vergnügen. Aber eine Sache hat mich schockiert. Um das Lächeln der Mona Lisa im Louvre zu sehen, bezahlte ich die Metrofahrt und den Museumseintritt. Und war danach Pleite. Ich wusste: Wenn ich in Dresden mit der Straßenbahn zur Galerie Alte Meister fuhr, um mir die Sixtinische Madonna anzusehen, zahlte ich fast nichts. Da wurde mir ein gesellschaftspolitischer Unterschied klar: Du organisierst als Staat den Zugang zu Kunst und Kultur entweder so, dass du ihn dir leisten können musst. Oder du sagst, alle müssen Zugang haben. Gewiss, es gab in der DDR eine politische Ausgrenzung bei Kultur und Bildung, aber keine soziale. Heute ist es genau anders herum. Das will ich genauso überwinden. Aber damit keine Missverständnisse aufkommen: Heute ist mein Leben insgesamt natürlich sehr viel reicher als damals, keine Frage.
Haben Sie „ostalgische“ Momente, in denen Sie sich an etwas aus DDR-Zeiten zurücksehnen, das es nicht mehr gibt?
Gysi: Ich kann Ihnen das genau sagen: das Zusammengehörigkeitsgefühl. Diese vielen Feste, die man feierte. Auch nach jeder Parteiversammlung sind wir in einer kleinen Gruppe essen gegangen und haben uns vergnügt. Wir haben uns immer etwas einfallen lassen. Das zerfasert heute alles. Keiner hat mehr Zeit. Eine geschlossene Gesellschaft hat viele Nachteile. Aber ein Vorteil ist, dass man aufeinander angewiesen ist. Alles war ein Beziehungsgeflecht. Zum Beispiel hatte ich meine Kfz-Werkstatt rechtlich vertreten. Im Gegenzug wurde mein Auto repariert. So lief es. Aber natürlich gab es auch Momente, in denen mir das ziemlich auf die Nerven ging. Etwa, dass ich mich in Gaststätten nicht hinsetzen konnte, wo ich wollte, sondern dass ich platziert wurde.
Den Verlockungen des Westens sind sie nie erlegen?
Gysi: Doch. In Paris hat mir alles gefallen. Der Schuhladen, der Käseladen mit über 300 Sorten, die Cafés, es gab eine Demo, da schimpften sie wie wild auf die Regierung. Das bereitete mir alles größtes Vergnügen. Aber eine Sache hat mich schockiert. Um das Lächeln der Mona Lisa im Louvre zu sehen, bezahlte ich die Metrofahrt und den Museumseintritt. Und war danach Pleite. Ich wusste: Wenn ich in Dresden mit der Straßenbahn zur Galerie Alte Meister fuhr, um mir die Sixtinische Madonna anzusehen, zahlte ich fast nichts. Da wurde mir ein gesellschaftspolitischer Unterschied klar: Du organisierst als Staat den Zugang zu Kunst und Kultur entweder so, dass du ihn dir leisten können musst. Oder du sagst, alle müssen Zugang haben. Gewiss, es gab in der DDR eine politische Ausgrenzung bei Kultur und Bildung, aber keine soziale. Heute ist es genau anders herum. Das will ich genauso überwinden. Aber damit keine Missverständnisse aufkommen: Heute ist mein Leben insgesamt natürlich sehr viel reicher als damals, keine Frage.

Der Integrationshelfer

Für viele Ostdeutsche waren Sie nach der Wende eine Art Integrationshelfer im geeinten Deutschland. Bis heute können sich viele Ostdeutsche mit Ihnen identifizieren. Sie wiederum können den Osten erklären. Hat Sie diese Rolle auch mal gestört?
Gysi: Nein, es war ja eine bewusste Entscheidung von mir. Vor allem am Anfang wollte ich mit der Partei jenen Teil der Ostdeutschen in der Bundesrepublik vertreten, die kein anderer vertreten wollte. Das waren Millionen DDR-Partei- und Staatsfunktionäre. Die mussten auch einen Weg in die deutsche Einheit finden. Dann kamen die ostdeutschen Eliten hinzu, die ja mit ein paar Ausnahmen ebenfalls nicht vereinigt wurden, etwa aus Kultur und Wissenschaft. Diese ostdeutschen Eliten wollten eigentlich nicht zurück zur PDS. Aber sie wurden in unsere Nähe gedrückt, weil keine Vereinigung stattfand. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte mir später, dass seine West-Eliten das nicht wollten. Ich meinte, er hätte sich darüber hinweg setzen müssen. Aber gut, letztlich kam es nicht dazu. Zudem kam im Osten eine Massenarbeitslosigkeit hinzu, wie es sie im Westen glücklicherweise nie gab. Es entstanden viele Ängste, und wir wurden für diese Menschen zur Kümmererpartei. Dadurch kam uns eine ungeheuer wichtige und sehr spezifische Rolle zu. Inzwischen gibt es sogar CDU-Politiker, die würdigen, dass wir einen wichtigen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet haben, weil wir den Menschen im Osten einen Weg dorthin aufgezeigt haben.
Nach der Wende schlug der PDS viel Ablehnung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit entgegen. Ist der Blick auf die Linke heute versöhnlicher?
Gysi: Nach wie vor wird unterschieden zwischen der Linken und mir. Ich habe etwas mehr Akzeptanz erreicht als die Linke insgesamt als Partei. Aber wir haben es für die Linke geschafft, dass es inzwischen als normal gilt, dass sie im Bundestag sitzt. Das ist eine gravierende Veränderung. Wir haben Deutschland im europäischen Vergleich insofern normalisiert, als es auch eine linke Partei links von der Sozialdemokratie gibt. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag hat sich noch etwas verändert: Bei all denen, die gegen die AfD sind, ist die Akzeptanz für die Linke höher. Aber auch bei den anderen Parteien und in den Medien sind wir als politische Kraft akzeptiert. Das war am Anfang keineswegs abzusehen, wenn man an die tiefe Ablehnung der PDS zurückdenkt.
Mit was für einem Gefühl blicken Sie auf den Erfolg der AfD?
Gysi: Es schmerzt mich sehr, dass jetzt im Bundestag eine nationalistische, rassistische Partei sitzt, selbstbewusst, zudem stärker als die Linke – ja, das tut weh.
Welche Strategie empfehlen Sie Ihrer Partei im Umgang mit der AfD? Kann ignorieren oder beschimpfen die Lösung sein?
Gysi: Wir müssen die Gründe ermitteln, warum Menschen AfD wählen. Wenn wir diese Gründe kennen, müssen wir darüber nachdenken, wie man diese Gründe abbauen kann. Wenn Menschen sich als Menschen zweiter Klasse fühlen, suchen einige dann Menschen dritter Klasse, auf die sie herabschauen können. Das sind derzeit meist Flüchtlinge. Wie können wir also beheben, dass sie sich als Menschen zweiter Klasse fühlen? Wie kann man Ängste abbauen, dass Menschen fürchten, etwas von ihrem Besitz zu verlieren? Wir müssen zugleich die Rechtsstaatlichkeit erhöhen. Leute, die schlagen, müssen auch mal für eine kürzere Zeit eingesperrt werden, um ihnen das auszutreiben, statt immer nur Strafe auf Bewährung zu bekommen. Zudem brauchen wir Aufklärung. Man muss den AfD-Anhängern klar machen, dass es ihnen nicht besser geht, wenn sie andere arme Leute bekämpfen. Genau das ist ja ihr Irrtum. Wir müssen in Bildungschancen, in sozialen Aufstieg und zugleich in die Bekämpfung von Fluchtursachen investieren. Wenn uns all das gelänge, hätte die AfD keine Chance mehr.

Warum gibt es immer wieder Streit?

Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in Ihrer eigenen Partei? Es gibt erneut Zank um das Projekt einer Sammelbewegung, wie es Linke-Mitbegründer Oskar Lafontaine vorgeschlagen hat. Warum fällt es der Partei so schwer, Streit zu umgehen?
Gysi: Ich habe meiner Partei schon vor Jahren zu erklären versucht, dass man sich höchstens zehn Prozent Selbstbeschäftigung leisten kann. 90 Prozent müssen Politik sein. Aber wir haben immer Zeiten, wo das umgekehrt ist. Das ist eine Katastrophe. Zudem reden wir über Dinge, die eigentlich schon entschieden waren. Sollen wir uns wirklich mit der CSU in eine Obergrenzen-Debatte verrennen. Welche Zahl wollen wir dann benennen? Nach welchen Kriterien? Zweitens geht es um die europäische Integration. Sind wir nun dafür oder dagegen? Da haben wir auch widersprüchliche Positionen. Dabei ist diese Frage für die Jugend sehr wichtig. Und jetzt kommt noch die Frage der Sammlungsbewegung dazu. Ich habe im Prinzip nichts dagegen. Wir wollten ja immer, dass Leute, die nicht bei uns Mitglied werden wollen, bei uns in irgendeiner organisierten Form dabei sein können. Allerdings fiel auch das Wort einer neuen Volkspartei. Und die brauchen wir nun wirklich nicht. Wenn jemand eine neue Partei gründen will in der Hoffnung, da kommen jetzt alle Vernünftigen hin, dann muss ich sagen: Da kommen auch alle Unvernünftigen hin. Eine solche Partei zersplitterte die Linke.
Gehört Sektierertum nicht traditionell zur Linken dazu?
Gysi: Es gehört insofern dazu, als wir ja versuchen mussten, auch diese Gruppierungen bis zu einem gewissen Grad zu integrieren. Das geht auch. Die Frage ist nur: Wer dominiert das Ganze? Und an dieser Stelle darf sich nichts ändern. Bisher haben immer die Reformer die Hauptrichtung bestimmt. Dann lassen sich am Rande auch andere Auffassungen tolerieren. Es darf sich aber nicht verschieben. Für mich gilt: Ich bin aufgewachsen mit der reinen sozialistischen Lehre. Ich will auf keinen Fall zum Dogma zurück.
Schwindet Ihre Autorität in der Partei?
Gysi: Nein, aber Vorsitzender der Europäischen Linken ist nun Mal ein anderes Amt als jenes, das ich früher hatte. Ich bin jetzt in einer anderen Rolle. Aber sollte es wirklich hart auf hart kommen, kann ich auch loslegen. Ich hoffe, es wird nicht nötig.
Welches Programm haben Sie an Ihrem heutigen Geburtstag?
Gysi: Ich komme in den Bundestag und gehe zur Fraktionssitzung. Und abends gehe ich ausschließlich mit meiner Familie essen. Darauf freue ich mich.