Grüne unter Druck Nothelfer Kretschmann
Den Grünen weht der Wind ins Gesicht – überall in Deutschland. Da ist jede Hilfe recht, kommentiert Reiner Ruf
Den Grünen weht der Wind ins Gesicht – überall in Deutschland. Da ist jede Hilfe recht, kommentiert Reiner Ruf
Winfried Kretschmann hat sich als Ministerpräsident erstaunlich zählebig erwiesen. Niemand hätte bei seinem Amtsantritt 2011 daran gedacht, dass er dereinst als der am längsten amtierende Regierungschef in die Landesgeschichte eingehen könnte. Jetzt ist diese Möglichkeit zum Greifen nah. Ob es wünschenswert ist, das Potenzielle ins Tatsächliche zu verwandeln, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Leicht bröckelt die Autorität jener, deren Amtsende naht. Die Kraft zur Selbstkritik schwindet. Was sich in der Öffentlichkeit als bescheiden darbietet, wächst sich in der Binnensicht zur Titanentat aus.
Doch ist es für eine Bilanz der Ära Kretschmann noch zu früh. Beachtung verdient vielmehr eine andere der vielen Facetten des Ministerpräsidenten: Ihm gelang es, im Namen der Demokratie ein reiches Vertrauenskapital in der Bevölkerung aufzubauen. Er tat dies, indem er sich immer wieder von der grünen Parteilinie absetzte. Auf eine etwas ambivalente Weise verkörpert Kretschmann grüne Regierungsfähigkeit. Nie weiß man so ganz genau, ob er die Konservativen einwickelt oder sich von diesen einwickeln lässt. Seine Maxime lautet: Bloß niemand verschrecken. Seine Politik changiert zwischen Machtopportunismus und sanfter Modernisierung. Man kann es auch Realismus nennen. Der Blick dafür geht den Grünen in Berlin beim Kampf divergierender Machtzentren in der Partei verloren.
Der Absturz des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck begann, als er von Kretschmanns Kurs abwich, das, was allgemein und begründet als vernünftige Politik gilt, zur Grundlage des eigenen Tuns zu machen. Dies galt im Streit über eine verlängerte Nutzung der Atomenergie. Dieser Konflikt wird seit jeher hoch ideologisch geführt, und zwar von den Befürwortern des Atomstroms nicht minder als von den Gegnern. Letztere witterten den Plan der Atomlobby, die Risikotechnik auf Dauer fortzuführen. Umgekehrt erschien es in einer Situation der Energieknappheit als dogmatisch, auf ein Extraquantum Strom zu verzichten.
Außenministerin Annalena Baerbock übrigens wehrte mit feinem Gespür für die grünen Empfindlichkeiten eine Laufzeitverlängerung viel vehementer ab als Habeck. Dessen Heizungsgesetz war klimapolitisch bitter notwendig, wurde aber falsch aufgezäumt (erst kommunale Wärmepläne, dann Heizungstausch) und kommunikativ vermasselt. Der Hass, der sich daraufhin gegen Habeck und die Grünen entlud (und kräftig geschürt wurde), eskaliert jetzt im Streit über die Migration. Im bayerischen Landtagswahlkampf ist der erste Stein gegen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen, Katharina Schulz und Ludwig Hartmann, geworfen worden. Es zeugt von Dummheit oder von subtiler Infamie, Grüne und AfD als die beiden Pole in der politischen Geografie Deutschlands darzustellen. Damit werden eine demokratische und eine von Rassismus, Antisemitismus und Faschismus kontaminierte Partei auf eine Ebene gestellt.
Die Republik kippt nach rechts, da werden die Grünen gebraucht, um die Demokratie zu verteidigen. Wer kann dies glaubwürdiger als Kretschmann? Er repräsentiert Maß und Mitte. Er vermag mit seinem Ansehen zu helfen, die Partei auf einer mittleren Linie zu halten, um ökologische Modernisierung mit gesellschaftlicher Akzeptanz zu verbinden. Denn in der Demokratie zählt die – zur Rücksichtnahme auf die Minderheit verpflichtete – Mehrheit und nicht die Reinheit der Überzeugung. Im Sturm wächst die Neigung, sich in die Wagenburg der Programmatik zu flüchten. Dies käme einer Selbstverzwergung der Grünen gleich.