Außenminister Guido Westerwelle erfindet sich im Wahlkampf wieder neu und ist doch ganz der Alte. Auf seine alten Gassenhauer muss keiner der Fans verzichten.

Bonn - Der Rhein macht es sich in seinem Bonner Flussbett an diesem sonnigen Tag bequem. Ein Mann und eine Frau begegnen sich am Ufer beim Kirchgang, gut situiertes Bürgertum. Beide reich an Lebenserfahrung, er schon recht gebrechlich. Sie zu ihm: „Juut siehst du aus“. Er zu ihr: „Leck misch.“ Sie lächeln sich an und preisen wenig später gemeinsam den Herren. So ist das im Rheinland.

 

Bonn, das ist die Heimat von Guido Westerwelle. In dieser Melange aus bürgerlicher Provinz und frecher Fröhlichkeit ist er als Kind, Schüler und Student herangewachsen zum Generalsekretär und Chef der FDP. Ein bürgerlicher Provokateur wurde er, der den verwegenen Tabubruch ebenso wenig scheute wie die Stoppersocken beim Reporterplausch. Er stellte sich zur Schau, zu durchschauen war er nie. Dann wurde er auf einmal Außenminister.

Das war vor vier Jahren. An diesem Sonntag ist er wieder in Bonn, dort, wo für ihn alles begann. Auf dem Dach der Kunst- und Ausstellungshalle will er auftreten, beim liberalen Sommerjazz, zwischen Big Band und gelben, kleinen Windrädern. Als Spitzenkandidat der FDP in Nordrhein-Westfalen wird er den Leuten gleich erklären, warum sie FDP wählen sollten. Mit 200 Gästen wurde gerechnet, knapp 400 sind gekommen. Westerwelle grüßt fast alle mit Handschlag, kennt viele Namen. Stets höflich und zugewandt gibt er Autogramme. Er malt einem Jungen ein lachendes Gesicht aufs T-Shirt, lässt sich geduldig fotografieren, die Menschen sind stolz, sich später auf Bildern an seiner Seite zu sehen.

Er ist ein Zugpferd im Wahlkampf. Foto: dpa-Zentralbild
Jene, denen er noch immer als Feindbild dient, werden nie verstehen, dass Westerwelle nicht wenige Anhänger hat. Menschen, denen er Hoffnung macht, deren Lebensgefühl er mit seinem Leistungsethos anspricht wie kein Zweiter. Die Sache ist deshalb ganz einfach: Bald ist Wahl, es wird knapp für die FDP, und Westerwelle ist ihr bester Wahlkämpfer. Man braucht ihn wieder. Das weiß die Partei. Und er weiß, dass die Partei es weiß.

Für ihn trifft sich das gut, denn Westerwelle kann es jetzt all jenen zeigen, die ihn, der bei der letzten Bundestagswahl mit 14,6 Prozent das beste Ergebnis aller Zeiten holte, 2011 wie einen räudigen Köter vom Hof jagen wollten. Nur mit Mühe verteidigte er sein Außenamt, nachdem ihn Philipp Rösler, Christian Lindner und Daniel Bahr von der Parteispitze gedrängt hatten. Fortan war das Außenministerium sein einzig verbliebener Machtanker. Also machte er sich endlich daran, diese Rolle zu spielen. Zwar sagt ein hochrangiger Diplomat, dass er nun nach vier Jahren in etwa dort angekommen sei, wo er nach einem Jahr schon hätte sein müssen. Aber er machte keine groben Fehler mehr. Seine Beliebtheitswerte stiegen. Westerwelle ist stolz darauf, inzwischen mehr gereist zu sein als sein Vorgänger Frank-Walter Steinmeier. Und es finden sich immer mehr Beobachter bereit dazu, allein die Zahl der zurückgelegten Flugmeilen in diplomatische Wirkungsmacht zu übersetzen.

Westerwelle: „Wohlstand fällt nicht vom Himmel“

Um sein Comeback abzusichern, ließ er alle wissen, mit seinem früheren Leben abgeschlossen zu haben. „Die Partei war mit mir durch und ich mit dem Parteivorsitz“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Er gab sich einsichtig, räumte gravierende Fehler ein. In der FDP fanden aber weniger die effektvoll inszenierten Demutsgesten Interesse. In Erinnerung blieb vor allem ein Satz aus einem „Stern“-Gespräch: „In der Demokratie hat jeder eine zweite, dritte oder auch vierte Chance verdient“ – jeder.

Der Auftritt des Außenministers Foto: dpa-Zentralbild
37 Auftritte sind in seinem Kalender in den letzten drei Wochen bis zur Wahl vermerkt – bundesweit. Oft redet Landeschef Lindner vor ihm – als Muntermacher. Mit ihm und auch mit Bahr komme er wieder klar, heißt es. Mit Rösler nicht. Nein, von Rache könne keine Rede sein, sagen jene, die mit Westerwelle derzeit um die Häuser ziehen. Aber keiner will der Vermutung widersprechen, dass Westerwelle die Situation genießt. Über Frontmann Rainer Brüderle, Knochenbrüche hin oder her, murren sie schon. Und auch über Parteichef Rösler reden sie nicht nur Gutes. In der FDP wächst deshalb die Sehnsucht nach Westerwelle, dem einstigen Seriensieger.

Er ist erst 51, auch wenn er bei seinen Wahlkampfauftritten hin und wieder über sich spricht, als sei er älter als Hans-Dietrich Genscher. Man muss nicht glauben, dass Westerwelle ohne die Bedeutung eines Amtes auskommen könnte. Fast alle Spitzenpolitiker sind verliebt in die Illusion, unentbehrlich zu sein. Aber wenigen ist es so wichtig wie Westerwelle, dass die Wichtigen ihn wichtig finden. Als Wahlkämpfer muss er sich allerdings abermals neu erfinden. Er kann ja schlecht wie noch vor vier Jahren brüllen: „Deutsche, befreit euch von dieser Regierung!“ Nein, nein, diesmal gibt er den konzilianten, gereiften Weltbürger, den weisen Reisenden, eine Art Marco Polo mit FDP-Parteibuch. Er spricht getragen, mit langen Pausen und jenem ernsten Gesichtsausdruck, der einen Eindruck davon vermitteln soll, wie schwer die Last der historischen Verantwortung ist, die er auf seinen Schultern zu spüren glaubt. Er sagt dann so Sachen wie: „Wir wissen gar nicht, wie gut es uns hier zu Hause geht.“

Seine vielen Reisen haben Westerwelle auch darin bestärkt, dass Wachstum die Voraussetzung für den Erfolg in Deutschland sei. Dann kommt, was bei ihm an so einer Stelle kommen muss: „Wohlstand fällt nicht vom Himmel, er wird hart erarbeitet und er wird nur dort erarbeitet, wo sich Leistung lohnt. Und mögen wir die letzten Mohikaner sein, die das sagen: Leistung muss sich lohnen. Und wer sich anstrengt, muss dafür mehr haben, als wenn er es nicht tut.“ Das klingt nach vier Jahren Außenamt zwar wie die Akustikversion eines Heavy-Metal-Klassikers, aber der Applaus ist Westerwelle für diesen Gassenhauer noch immer sicher.

Wer ihm bei seinen Reden weiter folgt, der fühlt sich womöglich an ein Büchlein von Janosch erinnert. Es handelt vom kleinen Tiger, vom kleinen Bär und einer schwarz-gelb gestreiften Holz-Tigerente auf Rädern, die sich auf den Weg hin zu einem fernen Sehnsuchtsort namens Panama machen, von dem sie nichts wissen und dem sie umso bereitwilliger alles Gute und Schöne andichten. „Oh, wie schön ist Panama“ heißt die Geschichte.

Panama und Singapur als Positivbeispiele für Dynamik

Panama und Singapur dienen nämlich Westerwelle als Beispiel dafür, die Dynamik in anderen Weltregionen zu vergleichen mit den seiner Ansicht nach viel zu trägen Planungsprozessen in Deutschland. In Panama sei die größte Baustelle der Welt zu besichtigen, die Erweiterung des Panamakanals. In einer Volksabstimmung hätten 80 Prozent dem Projekt zugestimmt. In Singapur sei in nur fünf Jahren ein gigantisches dreitürmiges Hotel entstanden. Kostenpunkt: fünf Milliarden Euro. „Und dann komme ich zurück nach Deutschland. Und dann denk ich an Bahnhöfe und ich denke an Flughäfen. Und dann kann man traurig werden“, sagt Westerwelle, „wir brauchen mehr Tempo, wenn wir den Anschluss in der Welt nicht verlieren wollen.“

Die Pointe sitzt, und da mag ja auch was dran sein – einerseits. Andererseits ist das so eine Sache mit dem Tempo in diesen Ländern. Amnesty International rügt in Panama Polizeigewalt gegen Demonstranten, die Todesopfer forderte. Auch Singapur steht nicht im Ruf, zimperlich mit Kritikern umzugehen. In beiden Ländern ist es um die Pressefreiheit nicht gut bestellt. Guido Westerwelle merkt zwar an, man „könnte viel darüber sagen, wie die Lage in diesen Ländern nach innen ist“. Er führt es aber nicht aus, vereinfacht ohne jeden Skrupel, wie früher, nur leiser. Nichts soll den Eindruck trüben, dass es dort geradezu märchenhaft ist für jeden, der Großes will.

Viel redet er nicht über die anderen Parteien, zu kleines Karo für einen Mann von Welt. Dass er Schwarz-Gelb klasse findet, ist eh klar. Aber am Ende vor roten Socken, also Rot-Rot-Grün, zu warnen ist ihm dann doch ein Anliegen. Er verlegt dabei kurzerhand den Nukleus der friedlichen Revolution in der DDR nach Bonn: „Wir haben hier nicht alle gemeinsam für die deutsche Einheit gekämpft und gearbeitet, um jetzt zuzusehen, dass diese Leute von früher und von gestern mit ihrem sozialistischen Gedankengut wieder etwas zu sagen bekommen.“ Das ist zwar selbst nach rheinischen Maßstäben ganz schön dreist, aber Westerwelles jubelnden Fans ist das egal. Er ist wieder da. Die Frage ist jetzt: wo will er hin?