Umwege für den Überflieger: der Handballer Christian Dissinger hat zwei Kreuzbandrisse hinter sich. Doch beim THW Kiel ist er diese Saison durchgestartet – das will er jetzt auch bei der EM in der Nationalmannschaft tun.

Sport: Joachim Klumpp (ump)

Stuttgart - Christian Dissinger misst stolze 202 Zentimeter – und wird trotzdem manchmal übergangen. Beim offiziellen Medientag der deutschen Handballer vor der EM in Polen in Stuttgart jedenfalls stand der Rechtshänder nicht im Fokus der Kameras. Das kann sich schnell ändern. Schließlich gehört der 24-Jährige zu den Senkrechstartern der Saison. Beim THW Kiel schob er sich wieder ins Rampenlicht, so dass auch der Bundestrainer Dagur Sigurdsson nicht an dem „ewigen Talent“ vorbeikam. „Er hat sehr positive Wochen hinter sich“, sagt der Isländer, unter dem „Dissi“ sein Debüt gibt. Etwas verspätet.

 

Schon beim Supercup Anfang November sollte es so weit sein, damals setzte ihn eine Rippenprellung außer Gefecht. Eine eher harmlose Blessur, da hat Dissinger schon ganz andere Verletzungen hinter. Zwei Kreuzbandrisse warfen ihn in jungen Jahren weit zurück. „Doch die spielen keine Rolle mehr“, sagt der Rückraumschütze. 2011 war er Weltmeister (und bester Spieler des Turniers), zwar mit den Junioren, aber immerhin. Die Tür zur großen Karriere stand offen – doch der gebürtige Ludwigshafener entschied sich für Kadetten Schaffhausen. „Die haben damals Champions League gespielt, das war ein Kriterium für mich“, sagt er heute. Außerdem lockte viel Spielzeit, bis ihm die Gesundheit einen Strich durch die Planung machte.

Verletzt und vereinslos

Doch es kam noch dicker: Dissinger hatte einen Vertrag in Spanien unterschrieben. Beim damaligen Spitzenclub Atlético Madrid, doch eine Woche später war der Verein pleite. „Ich war gar nie dort“, erinnert sich der Spieler an den Schock. Zumal er ja seinen zweiten Kreuzbandriss noch nicht auskuriert hatte: Verletzt und vereinslos – viel schlimmer geht’s nimmer. Da kam das Angebot aus Nettelstedt ganz recht, auch wenn der Verein nicht zu den Topclubs der Bundesliga zählt. Doch Dissinger konnte sich von Januar 2014 an langsam wieder an den Kader heranarbeiten, und von April an dann spielen. Wenn auch eher durchwachsen.

Doch das schreckte Kiel nicht ab. „Wenn man einen Shooter für halblinks sucht, landet man irgendwann bei Dissinger“, sagte der Manager Thorsten Storm zu der Verpflichtung bis 2017. Alles richtig gemacht, lautet die Zwischenbilanz. In Zahlen: 107 Tore in 31 Spielen. Und der Trainer Alfred Gislasson sagt: „Ich sehe auf seiner Position keinen besseren Deutschen.“

Nicht einmal Steffen Fäth, mit dem er sich bei der EM die Rolle teilen soll. Also sagt auch der Spieler selbst: „Es gab zwar ein paar Anlaufschwierigkeiten, aber jetzt bin ich fast ein wenig traurig, dass Winterpause ist.“

Erst EM, dann Olympiaquali

Zumindest im Verein, im Verband nicht. Da gibt er nicht sein Debüt, sondern genau genommen sein Comeback. Vier Länderspiele hat Dissinger bereits absolviert – vor seinem Leidensweg. An diese ersten Einsätze will er jetzt anknüpfen, ohne zu große Erwartungen. „Natürlich sollte bei der EM das Erreichen der Hauptrunde das Minimalziel sein, aber wichtiger als die Ergebnisse sind unsere Leistungen.“ Und die Olympiaqualifikation im April. „Es wäre schon bitter, wenn man da zweimal hintereinander nicht dabei wäre“, sagt Dissinger.

Der kann sich über mangelnde Einsätze nicht beklagen. „Die letzten Partien bei Kiel habe ich fast immer durchgespielt.“ Über 30 Pflichtspiele standen so bis Weihnachten an. „Das sind fast schon Verhältnisse wie im amerikanischen Basketball, nur dass der Handball noch nicht so professionell ist“, sagt er – und: „Wir werden zu Maschinen ausgebildet.“ Dissinger ist ein gebranntes Kind, doch nicht nur ihm ist die Belastung ein Dorn im Auge. Beim Ligarivalen Rhein-Neckar Löwen sowie in der Nationalmannschaft fiel zuletzt die Flügelzange Patrick Groetzki und Uwe Gensheimer Verletzungen zum Opfer. Der Bundestrainer sagt trotzdem: „Das Thema haben wir abgeschlossen, es würde uns den Fokus auf die Vorbereitung nehmen.“ Die geht an diesem Dienstag in die heiße Phase, mit dem Spiel gegen Tunesien – und Dissinger.