An diesem Samstag beginnt das Musikfest Stuttgart. „Krieg und Frieden“ ist sein Thema. Der Leiter Internationalen Bachakademie, Hans-Christoph Rademann steckt mitten in den Vorbereitungen – und begeistert sich bei Kaffee und Croissant für Joseph Haydn.

Stuttgart - Eigentlich gehören zu seinem Frühstück zwingend: Joghurt (lactosefrei), Früchte – und, unbedingt: Leinsamen. Aber jetzt, an diesem Spätsommermittwochmorgen, mitten im heißen Talkessel und mitten in den Proben für das Eröffnungskonzert zum Musikfest Stuttgart, macht der Alltag Pause. Und Hans-Christoph Rademann, der künstlerische Leiter der Internationalen Bachakademie, steckt mit seinen Gedanken bereits so tief im Thema seines Festivals, „Krieg und Frieden“, dass er in der Akademie der schönsten Künste nie etwas anderes hätte bestellen können als das Frühstück mit dem Namen Otto Dix. Schließlich, sagt der Dirigent, komme ihm bei Dix sofort das Triptychon „Der Krieg“ in den Sinn.

 

Er kennt es aus der Galerie Neue Meister in Dresden, und in seiner Drastik wie mit seinen zahlreichen Rückbezügen auf ältere Kunstwerke passt es präzise zu den Werken, mit denen sich Rademann gerade beschäftigt. Also zu jener „Militärsinfonie“, mit der Haydn den Krieg seiner Zeit in den Konzertsaal hineinließ; im zweiten Satz mit seiner Janitscharenmusik bleibe, so der Dirigent, „nach ganz viel Katastrophischem“ vom Thema nurmehr „ein kleines Schnipselchen“ übrig, und das, sagt er, gehe ihm bis zum Fanfaren-Quartsprung am Ende immer wieder durch und durch. Im Eröffnungskonzert wird Rademann auch die „Missa in tempore belli“ dirigieren, in deren Agnus Dei – ausgerechnet im Agnus Dei mit seiner Friedensbitte! – Haydn den Trommelwirbel einer Militärkapelle gleichsam unter die Lupe legt (das Werk ist auch als „Paukenmesse“ bekannt geworden). Und erst im Credo: „Da wird ganz viel Text parallel gesungen, sodass das Ganze chaotisch wirkt, zeitweise wie im Schleudergang der Waschmaschine – bis sich am Ende doch alles verbindet und zu einer gemeinsamen Sprache findet.“

Die Gaechinger Cantorey spielt erstmals Werke der Klassik

So versprüht der Dirigent schon beim Frühstück Begeisterung. Geht es nach dieser, so sollte und müsste am Samstag der Beethovensaal voll sein. Außerdem wird man – und auch das ist doch toll! – eine neue Gaechinger Cantorey erleben. Weniger beim Chor, der hier lediglich mit einer Musik zu kämpfen hat, die „nicht so gut in der Kehle liegt, nicht automatisch gut klingt“. Sondern vor allem beim Orchester, das sich hier erstmals an klassische Musik heran wagt: mit modifizierten Blasinstrumenten, klassischen Bögen und einem Stimmton von 430 Hertz, der von den 415 Hertz der Barockmusik bereits weit voran rückt an die immer höhere, brillantere, aber auch härtere Stimmung unserer Tage. Die Reise des Hans-Christoph Rademann bei der Bachakademie setzt sich fort; sie wird, verspricht er, noch weitergehen. „Der Klang“, sagt der Dirigent, „ist Teil der Interpretation.“

Und mit dem Krieg beschäftigt sich nur ein Teil des Programms. Das Musikfest spannt weiten einen Bogen bis hin zu Friedensmusiken Händels, die im Abschlusskonzert erklingen werden, und Hans-Christoph Rademann wird nicht müde darin, den Feinsinn seines Dramaturgen Henning Bey zu loben, der viele feine thematischen Vernetzungen zwischen Vorträgen und Konzerten ersonnen hat; eigentlich müsse man die ganzen dreizehn Tage dabei sein, um alles begreifen und genießen zu können.

Wenn Rademann noch einmal auf die Welt käme, würde er sich aktiv für den Umweltschutz einsetzen

Dass er selbst dazu beitragen kann: Das bezweifelt der 53-Jährige nicht. Zuletzt, beim „Kantatenring“ des Leipziger Bachfests, hat er mit der Gaechinger Cantorey „auf Augenhöhe“ mit Großen der historisch informierten Aufführungspraxis, mit John Eliot Gardiner und Mazaaki Suzuki („Der kennt keine neue Musik. Nur den ‚Elias‘“) musiziert, das hat sein Selbstbewusstsein ebenso aufpoliert wie das Lob, das ihn nach seiner gerade abgeschlossenen Schütz-Gesamtaufnahme (mit dem Dresdner Kammerchor) ereilte. Das einzige deutsche Barockensemble zu leiten, das die deutsche Bach-Tradition und -Kompetenz verkörpert und weiterträgt: Das ist und bleibt sein Ziel – für Stuttgart und darüber hinaus. Es war der Grund für die Umstrukturierung von Chor und Orchester vor zwei Jahren, und es ist ebenso sympathisch wie bezeichnend, dass ihm, dem gebürtigen Dresdner, beim lauten Nachdenken über die stilistischen Veränderungen bei der Bachakademie glatt das Wort „Wende“ herausrutscht. Ja, genau das war es wohl damals, und auch hier gehört es dazu, dass immer wieder noch ein bisschen Mauerschutt weggeschippt werden muss.

Wobei: Wenn Rademann noch einmal auf die Welt käme, würde er sich womöglich für den Umweltschutz engagieren – und zwar ganz direkt, also nicht nur so indirekt wie jetzt, wenn er sagt, dass er mit seiner Musik die Menschen sensibilisieren will und dass es beim Thema „Krieg und Frieden“ ja unbedingt auch um den Krieg gehe, den die Menschen gegen die Natur, gegen ihren Planeten führen. Ach nein, korrigiert er sich gleich darauf, es gibt für ihn in Stuttgart noch so viel zu tun. Gemeinsam mit örtlichen Unternehmen Neues entwickeln. Ein neues, größeres Musikfest konzipieren, das in Kooperation mit anderen Institutionen stärker nach außen strahlen soll. Vermitteln, dass große Kunst ein Universum von Bezügen ist, „wie wenn man googelt“. Mit der neuen Intendantin Katrin Zagrosek ab Anfang September frisch durchstarten. Das Staunen weitergeben – und, wenn möglich, auch die Begeisterung und die Hingabe.

Übrigens besteht – nein, bestand – das Frühstück Otto Dix aus Brötchen, Croissant, Aufschnitt, Ei und Orangensaft. Was das mit Otto Dix zu tun hat, weiß wahrscheinlich nicht mal der Verfasser der Speisekarte. Aber man muss nicht alles wissen. Man kann auch einfach genießen. Hans-Christoph Rademann winkt zum Abschied. Ein Gespräch hat er noch und dann eine Probe, die wieder so lang sein wird, wie sie ein Orchester mit Tarifvertrag nie dulden würde. Am Samstag beginnt das Musikfest.