Hass und Lügen sind über das Internet leicht zu verbreiten. Um sich und andere dagegen zu schützen, sollten Kinder und Jugendliche früh lernen, wie die unterschiedlichen Medien funktionieren, sagt die Schriftstellerin Jagoda Marinic.

Stuttgart - Schulen sollten dem Thema Fantasie mehr Platz geben – etwa durch Lesestunden und Gespräche über Bücher, meint die Autorin Jagoda Marinic. Dann könnten sie Lügen besser erkennen.

 

Frau Marinic, haben Hass und Hetze im Internet zugenommen?

Ja, ich stelle eine Enthemmung im digitalen Raum fest. Unter dem Schutz der Anonymität gibt es zunehmend entgrenzte Äußerungen, die man im direkten Kontakt eher nicht machen würde. Das ist jedoch nicht immer Hass, oft sind auch Aggression und Unmut.

Gezielte Kampagnen

Was sind die Gründe dafür?

Seit Corona verbringen viele bis zu zehn Stunden vor Bildschirmen, meist im Internet. Aus ihrer Isolation heraus arbeiten sich manche regelrecht an einigen Themen ab. Immer wieder kommt es zu gezielt gesteuerten Kampagnen, die Menschen einschüchtern und verunglimpfen sollen. Soziale Medien fördern diese hitzigen Auseinandersetzungen mit Hilfe von Algorithmen, um die Nutzer möglichst lange auf ihren Plattformen zu halten. Das bringt ihnen das Geld.

Welche Folgen hat das?

Wenn aggressives Verhalten im Netz belohnt und von den herkömmlichen Medien wie Zeitungen oder im Fernsehen auch noch aufgegriffen wird, dann stärkt das diejenigen, die am heftigsten polarisieren. Im digitalen Raum ist vieles zugespitzter ist als in der analogen Welt, es entstehen zunehmend unversöhnliche Lager. Das Lagerdenken ist gefährlich. Der Hass in den sozialen Medien kann sich verselbständigen.

Gefahr der Selbstjustiz

Auf welche Weise?

Wir erleben immer wieder, dass Hassbotschaften im Internet Menschen zu Selbstjustiz anstacheln. Ein Beispiel ist der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der sich für Flüchtlinge einsetzte und vor seiner Ermordung dafür im Internet angefeindet wurde. Zugleich geraten durch die Hashtaggerei wichtige Themen unter die Räder, ebenso das Gespür für die Spielregeln der Demokratie: die Auseinandersetzung um die besten Ideen, Lebensformen etc. Die Verhältnismäßigkeit geht verloren.

Könnten Sie ein Beispiel nennen?

Wenn etwa das Foto eines eisessenden Kanzlerkandidaten Laschet im Netz gewaltiges Aufsehen erregt, und die Frage, ob er das im Wahlkampf darf, mehr interessiert als inhaltliche Fragen. Zum Beispiel, wie er Steuerschlupflöcher schließen will, wann die Pflegekräfte endlich angemessen bezahlt werden oder was er gegen den Klimawandel tut. Oder sehen Sie sich den Umgang mit Greta Thunberg an: Es wird gefragt, ob sie das Recht hat, die Erwachsenen anzuschreien, statt zu fragen, was sie kritisiert. Der Konsum von gefakten Bildern und hohlen Kommentaren fördert den Hass und erschwert sachliche Diskussionen, weil immer mehr Falschinformationen verbreitet werden, etwa zum Thema Impfungen.

Auch Erwachsene sollten lernen

Wie lässt sich verhindern, dass Kinder und Jugendliche darauf hereinfallen?

Wichtig ist, früh die Medienkompetenz zu stärken. Kinder sollten lernen, wie sie Nachrichten überprüfen und Falschinformationen erkennen können. Und wie sie Plattformen wie Facebook, Twitter etc. selbstbestimmt nutzen können. Das gilt im Übrigen auch für die Erwachsenen. Zugleich müssen der Staat und die Europäische Union die Rahmenbedingungen für die Plattformen setzen. Man darf nicht zulassen, dass ungestraft Hass und Lügen verbreitet werden, etwa gegen Frauen, Minderheiten und Personen, die sich in die Öffentlichkeit wagen.

Wo sehen Sie die Aufgabe der Schulen?

Eine zentrale Aufgabe der Medienerziehung ist, über das Thema Sucht zu sprechen. Die sozialen Medien sind bewusst so designt, dass sie unsere Suchtimpulse füttern. Je mehr Zeit man surft, desto klarer wird das Nutzerprofil, und man erhält nur noch Informationen, die das eigene Weltbild bestätigen. Schüler müssen das wissen und die Gefahren von abgeschlossenen „Bubbles“ erkennen. Die Schule sollte auch vermitteln, dass die klassische Medien zum Ziele haben, die Welt in ihrer Komplexität und in ihren Widersprüchen zu zeigen. Wenn die Welt „zu plausibel“ wird, sollten Junge wie Alte skeptisch werden, denn die meisten Sachverhalte sind komplex und widersprüchlich.

Fantasie kann schützen

Als Schriftstellerin erfinden Sie Geschichten. Was unterscheidet Fiction/Literatur und Fake news, also Falschmeldungen?

Fake news wollen gezielt Lügen verbreiten und wirken propagandistisch und demokratiezersetzend. Fiction dagegen will mit dem Mittel der Fantasie tiefere Wahrheiten und Erkenntnisse über das Menschsein ausloten. Deshalb sollten Schulen der Fantasie mehr Raum geben – etwa durch regelmäßige Lesestunden und das Sprechen über die Unterschiede zwischen Fantasie und Realität. Kinder, die wissen, was Fantasie ist, merken auch schneller, wenn Fantasien in die Irre laufen, wie das bei Verschwörungsfantasien geschieht.

Impulsgeberin

Autorin

Jagoda Marinic (44) verfasst Romane und Erzählungen und schreibt Kolumnen für mehrere renommierte Zeitungen. In ihrem Podcast „Freiheit Deluxe“ beim Hessischen Rundfunk spricht sie mit Menschen, die sich in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen engagieren.

Managerin
 Die gebürtige Waiblingerin leitet das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg, einTreff für Menschen aus aller Welt.