Udo Wieczorek, Beamter aus dem Alb-Donau-Kreis, wurde seit Kindestagen von Kriegsträumen geplagt. Er geht auf Spurensuche und findet Merkwürdiges. Der Geislinger Journalist Manfred Bomm hat ihn zum Ort des Geschehens begleitet.

Ulm - Naja, wer’s glaubt. So oder so ähnlich höre ich die Skeptiker unken. Viel zu weit sind wir wohl von den Schulweisheiten entfernt, die hierzulande das Maß aller Dinge bestimmen. Udo Wieczoreks Albträume und der damit verbundene Fund eines handschriftlichen Dokuments, das ein tödlich verwundeter Soldat namens Vinz im Ersten Weltkrieg in einem Schützengraben hinterlassen hat, kratzt an der Fassade der festgemauerten Wissenschaft, die nur zulässt, was physikalisch und mathematisch berechenbar erscheint. Da werden so Fragen, wie etwa, ob Udo Wieczorek, geboren 1970 in Ulm, schon einmal gelebt hat oder ob seine Seele eng mit diesem Soldaten verbunden ist, gleich ins Reich der Märchen verbannt.

 

Nach dreijähriger Recherche wollen wir nicht behaupten, eine Erklärung gefunden zu haben. Udo Wieczorek und ich haben mit u

Udo Wieczorek Foto: privat
nserem Buch nichts weiter getan, als das Unglaubliche sorgfältig zu dokumentieren – und überlassen es jedem Leser selbst, eigene Schlüsse daraus zu ziehen.

Zugegeben, es mag ziemlich abenteuerlich klingen, wenn da jemand behauptet, er habe etwas aus seinen Träumen gefunden. Gerade als Journalist bin ich bei derlei Geschichten vorsichtig. Ein Berufsleben lang wurden mir dubiose Storys angetragen, die sich hinterher als das Hirngespinst profilsüchtiger Wichtigtuer herausgestellt haben. Aber Wieczorek war da ganz anders: Er wollte jedes Aufsehen um seine Person vermeiden. Und sogar, als ich ihn spüren ließ, seine Schilderungen ernst zu nehmen, war er nur mühsam von der Bedeutung dessen, was er da erlebt hatte, zu überzeugen. Es bedurfte einiger Überredungskunst, ihn davon zu überzeugen, dass seine Träume und alles, was daraus entstanden ist, auch für andere von Interesse sein könnte.

Ein Zufall weckt die Neugier

Begonnen hatte alles damit, dass mir ein Redaktionskollege im Frühjahr 2009 ein Buch gab und vorschlug, eine Rezension fürs Feuilleton der „Geislinger Zeitung“ zu schreiben. Der Klappentext ließ auf ein erfundenes Kriegsdrama im Gebirge schließen. Eine Geschichte zweier junger Bergsteiger, Vinz und Josef, die der Krieg entzweit. Der Autor, so wusste mein Kollege als dessen Freund, sei ein bodenständiger Beamter, ein naturverbundener Mann, von Kindesbeinen an bergbegeistert, steige in jeder freien Minute entweder in die Tiefen der Albhöhlen hinab oder auf die Berge des Allgäus. Ich tat den Inhalt des Buches, das er im Selbstverlag veröffentlicht hatte, als einen ganz normalen Roman ab, ahnte also nicht, welche Brisanz darin steckte.

Ein merkwürdiger Zufall weckte jedoch meine Neugier. Ich hatte das Buch ein halbes Jahr später zu einem Wanderurlaub mitgenommen und schon nach den ersten Zeilen überkam mich ein seltsames Gefühl: Ich befand mich inmitten des beschriebenen Kriegsgebiets. Abseits von Sexten im Südtiroler Hochpustertal, unweit der berühmten Drei Zinnen. Beim Nachwort angekommen, stutzte ich noch mehr. Wieczorek schreibt plötzlich in der Ich-Form, macht den Leser glauben, er selbst sei ein Teil der Geschichte. Er berichtet von zahllosen Träumen, in denen er all die Schrecken seines Buches selbst durchlitten habe, erzählt von einem mysteriösen Fund in einem Schützengraben. Heute weiß ich, dass er mit diesem Roman versucht hat, das Unglaubliche, das ihm widerfahren war, psychisch zu verarbeiten. Mit einer Art therapeutischem Schreiben.

Bei unserer ersten Begegnung rückte Wieczorek zögernd mit den Fakten heraus:

Ich war noch ein Kind. Doch trotz des zeitlichen Abstands sehe ich bis heute jede Einzelheit dieses Traums deutlich vor mir. Weshalb dies so ist, kann ich mir nicht erklären. Möglicherweise waren die Bilder in den Träumen einfach zu einschneidend, um vergessen zu werden. Ich war gerade vier geworden, als Albträume begannen, mich heimzusuchen. Immer wenn es passierte, herrschte schiere Panik in mir – nur für ein paar Minuten, so lange, bis der Spuk vorüber war. Es geschah zu Beginn nur gelegentlich, dann jede Nacht. Ich wachte schweißgebadet auf und flüchtete mich ins Ehebett der Eltern.

Udo Wieczorek beschrieb mir seinen ersten Traum so:

Es dämmert. Langsam findet Bewegung in dem Film statt, der vor mir abläuft. Wo bin ich? Was sind das für Leute? Warum haben alle dasselbe an? Furcht kriecht in mir hoch und mit ihr eine Eiseskälte. Meine Finger sind seltsam steif, rauer Stoff kratzt unangenehm an meinen Schultern. Irgendetwas in meiner Nähe stinkt so penetrant, dass ich nicht atmen will, nichts sehen will – ich will nur weg, nach Hause. Wo aber ist das . . .? Habe ich es vergessen? Mein Blick fällt auf einen Mann. Aus seinem Gesicht schreit der Schmerz. Unaufhörlich. Aber ich höre ihn nicht. Endlich schleifen ihn schmutzige Hände in die Dunkelheit, die mich umgibt. Wortfetzen streifen mein Gehör. Fremde Laute, die ich nicht verstehe. Es ist Krieg. Ich weiß es. Und ich weiß, dass das schlimm ist, obwohl ich all das nicht wissen kann.

Irgendwann hörten die Träume in Wieczoreks Kindheit auf, um dann im Erwachsenenalter mit ähnlichem Muster erneut einzusetzen. Immer spielte dabei auch ein junger Mann namens Josef eine Rolle, mit dem er sich verbunden fühlte:

Ich kenne den Platz, wo wir sitzen. Der Ausblick ist voller Frieden – nur heute nicht. Ich spüre, wie sich eine teuflische Unruhe der Szene bemächtigt, sehe Josefs energische Mimik. Er gebraucht Gesten, die mir fremd sind. Seine Hände drohen in die Luft. Seine Finger weisen auf den Wald vor dem nächsten Bergkamm, er zählt etwas ab. Ist es Zeit? Was will er von mir? Ich kann nicht hören, in was er sich hineinsteigert. Erst als seine schmalen Lippen schon ruhen, jagen mir ein    paar Worte entgegen: „Hunderttausend . . . Schutt . . . Asche!“ Dann ein harter Ruf: „Vinz!“ Josef schreit mir etwas ins Gesicht. Ich wende mich ab, das erste Mal.

Träume als Teile eines Puzzles

In diesem Traum verbarg sich das wichtigste Detail, ein erstes Puzzleteil im riesigen Gefüge. Josef rief einen Namen, undeutlich verzerrt, aber verständlich. Er rief: „Vinz!“ Und er sah Wieczorek dabei an. Wer aber war Vinz? Etwa der, aus dessen Sicht Wieczorek träumte?

Es kostete ihn viel Überwindung, seiner damaligen Freundin und jetzigen Frau Daniela die nächtlichen Träume zu erzählen. Verbergen konnte er sie nicht, gingen sie doch mit schweren Angstzuständen einher.

1994, auf Vorschlag Danielas, dann der erste Versuch, der Sache auf den Grund zu gehen und die Landschaft aus den Träumen zu suchen. Es mussten die Dolomiten im Ersten Weltkrieg sein – davon war Wieczorek überzeugt. Tatsächlich befallen ihn bei der Fahrt ins Hochpustertal Déjà-vus: Wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film laufen vor seinem geistigen Auge Szenen vergangener Zeiten ab. Als sei er schon einmal da gewesen. Dieses Wiedererkennen von Gassen, Friedhöfen und Gebäuden ist nicht einfach zu verkraften. Wieczorek erleidet einen Schwächeanfall. Ein Jahr später geht die Spurensuche weiter – erneut ohne konkretes Ergebnis. Es bedarf eines dritten Anlaufs.

1997 drängt ein inneres Gefühl Wieczorek zu dieser dritten Fahrt in die Dolomiten, zumal er und seine Frau längst alpine Bergsteiger geworden sind. Während dieser Reise geschieht das Unglaubliche: Obwohl die Träume abgeflaut sind, wird Wieczorek nachts von einer finalen Vision heimgesucht. Als stecke er selbst im Körper eines Soldaten, durchlebt er eine Szene, in der er im Schützengraben unter Schmerzen etwas aufschreibt und es an markanter Stelle hinter der Natursteinmauer des Grabens versteckt.

Suche in den Schützengräben

Anhand der Perspektive, die sich ihm auf die umgebende Bergwelt bietet, kann er anderntags die Lage des Schützengrabens orten – auf dem Bergrücken des 1900 Meter hohen Seikofels beim Kreuzbergpass. Im August 1915 tobte der Dolomitenkrieg hier besonders grausam. Italiener und die „Kaiserlichen“ von Österreich-Ungarn standen sich unerbittlich gegenüber.

Die Suche in den überwucherten Schützengräben ist nahezu aussichtslos. Doch Daniela lässt nicht locker – bis Wieczorek plötzlich tatsächlich am Ziel seiner nächtlichen Vision steht. Die Eheleute beginnen, die obersten Steine einer vermoosten Mauer abzutragen. Wieczorek greift dahinter in einen tiefen Hohlraum und berührt einen Stofffetzen. Reste einer Uniform? Vorsichtig befördert er zu Tage, was 82 Jahre verborgen war: ein vermoderter Feldpostsack, in dem sich eine völlig verrostete Dose befindet. Der Inhalt: ein zerknittertes und angeschimmeltes Schriftstück. Rostbraunes Papier, datiert auf den 13. August 1915, eng beschrieben in kaum entzifferbarem Kurrent. Jener Schrift, die vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn üblich war. Wieczorek traut seinen Augen nicht: Der Schreiber hat mit „Vinz“ signiert. Wieczorek bricht ohnmächtig zusammen.

Als der Text später mühevoll entziffert wird, erfährt Wieczorek vom Schicksal des Soldaten. Vinz befürchtete, dass er für „jene Schandtat büßen“ muss, „welche sich an jenem Tage an der Rotwand zugetragen hat“. Und weiter: „Alles in meiner Macht Stehende würde ich tun, ja sogar mein Leben aufgeben, um meinen lieben Freund wieder zum Leben zu erwecken“ – „Noch nie erfuhr jemals jemand hiervon.“

Dies ist eine Botschaft, die Wieczorek mit seinen Albträumen verbindet, denn die „Schandtat“, von der Vinz schreibt, ist ihm geläufig: Immer und immer wieder hatte er diese Szene von der Rotwand „durchlebt“, als Vinz während einer Nachtpatrouille versehentlich seinen Jugendfreund Josef erschoss. Beide hatten auf verschiedenen Seiten gekämpft. Vinz für Österreich-Ungarn, Josef für Italien.

Die Angst, noch weiter nachzuforschen

Für Udo Wieczorek schien der Kreis geschlossen. Denn mit dem Fund dieses Dokuments waren die Träume vorbei – als ob seine Seele Ruhe gefunden hätte.

Und nun war ich aufgetaucht, der Journalist und Krimiautor. Ein reizvolles Recherche-Thema: Welche handfesten Beweise gab es für diese Geschichte? Woher stammte der Soldat Vinz, dessen Nachnamen fehlte? Und wie alt ist das Papier dieser Botschaft?

Es war nicht einfach, Wieczorek von Nachforschungen zu überzeugen. Er habe Angst vor weiteren Träumen, wolle all die Schrecken nicht noch einmal über sich ergehen lassen, zumal mit unsicherem Ausgang. Bis dahin hatte er, der fürsorgliche Vater zweier kleiner Kinder, kaum mit jemandem über das Erlebte gesprochen – aus Scham und Angst, für verrückt erklärt zu werden. Immerhin hatte er beruflich einen guten Ruf zu verlieren.

Es erwies sich als Glücksfall, dass wir bei der Suche nach einem Papier-Experten an Lothar Göttsching vom Institut für Papierfabrikation an der Technischen Universität  Darmstadt gerieten. Die Einschätzung des Professors zur Herstellungszeit des Papiers: zwischen 1875 und 1960.

Zweiter Glücksfall: Rudolf Holzer, anerkannter Ortschronist von Sexten. Er bestätigt vieles von dem, was Wieczorek bis ins kleinste Detail aus der örtlichen Kriegszeit schildert. Und dies, obwohl Wieczorek nie zuvor dort gewesen war.

Hilfe des Ortschronisten

Umso rätselhafter erscheint, dass Wieczorek bereits im frühen Jugendalter den Südtiroler Dialekt perfekt beherrschte. Noch merkwürdiger mutet gar ein Vorfall an, der von Krankenschwestern einer Klinik in Seefeld am Ammersee bezeugt wurde: Nach einer schweren Operation habe Wieczorek auf Südtirolerisch nach seiner Uniform und dem Karabiner, also einem Gewehr, verlangt. Wieczorek war während eines beruflichen Seminars zusammengebrochen und hatte nach Komplikationen bei einer Blinddarmoperation reanimiert werden müssen. Aus dieser Phase sind ihm Bilder in Erinnerung, die er als Nahtoderlebnis bezeichnet. Wieder waren auch Kriegsszenen aufgetaucht – bis ihn ein Soldatengesicht davon abgehalten habe, auf ein Licht zuzugehen. Ein Gesicht, das oft am Ende der Träume gestanden war. Vinz?

Der Ortschronist Holzer hilft uns weiter: Verwundete aus dem Frontabschnitt bei Sexten seien im benachbarten Innichen in ein Militärhospital gebracht worden. Dessen Daten habe der Bozener Franziskanerbruder Siegfried Volgger ermittelt, der Guardian des inzwischen aufgelösten Klosters Innichen gewesen sei.

In Siegfrieds dickem Buch wird tatsächlich ein Vinzenz Rossi aufgeführt, der am 17. August 1915 an den Folgen einer schweren Verwundung verstorben war. Geburtsort: Centa/Borgo, damals „Zehnten“ genannt, ein kleines Bergdorf bei Lavarone, östlich von Trient. Dort jedoch wird er – für uns zunächst irritierend – unter dem Vornamen Luigi geführt, seinem Rufnamen im Dorf. Keinesfalls unüblich, wie Bruder Siegfried aufklärt.

Besuch bei der Nichte von Vinz

Bruder Siegfried studiert für uns die Matrikelbücher der Pfarrei Centa, um die Nachfahren ausfindig zu machen, die noch heute in Vinz’ Elternhaus wohnen und im Besitz jener Sterbetafel sind, auf denen die Gemeinde ihre 34 Gefallenen mit kleinen Porträts ehrte. Er fotografierte das Dokument ab und mailt es Wieczorek. Der betrachtet es aus der Distanz, um die Beschriftung nicht lesen zu können. Vinz erkennt er auf Anhieb.

Dank Bruder Siegfrieds Hilfe können wir die inzwischen 82-jährige Nichte von Vinz aufsuchen (Vater war einer von Vinzenz’ Brüdern). Ihr Sohn, ein pensionierter Polizist, präsentiert uns aus dem Nachlass seines Onkels vergilbte Fotos, auf denen Udo Wieczorek mühelos Personen identifiziert, über die er sich nie zuvor hätte kundig machen können.

Viele Fragen bleiben offen – auch die Frage, weshalb offenbar nur einige wenige Menschen eine solche „Erinnerung“ in sich herumtragen. Sind es besondere Fähigkeiten? Udo Wieczorek wehrt ab: Er fühle sich nicht als etwas Besonderes, sondern frage sich selbst immer wieder, warum gerade er mit einer solchen Last aus der Vergangenheit konfrontiert sei.