Im Haus der Lebenschance wird jungen Erwachsenen geholfen, die den Halt verloren haben. Das Ziel von Schülern wie Peppe: der Hauptschulabschluss.

Digital Desk: Jörg Breithut (jbr)
Stuttgart - Mit beiden Händen presst Jennifer das schmale Brett in die Fugen, bis der Leim aus der Nut quillt. Um das Seitenteil zu fixieren, montiert sie Schraubzwingen am Rohbau der Box. Doch immer wieder verzieht sich das Gehäuse, das einmal ein Cajón werden soll, eine Kistentrommel.

Jennifer steht auf, hält die Luft an und blickt zornig an die Wand. Dann verlässt sie den Werkraum. Draußen schluckt sie ihre Wut hinunter. "Früher wäre ich völlig ausgeflippt, ich hätte die Türe zugeschlagen", sagt sie. "Aber die Arbeit hier hat mich verändert, ich habe mich jetzt besser im Griff."

Jennifer, 21, ist eine von zwölf jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die eine zweite Chance im Leben bekommen. Sie besucht an fünf Tagen in der Woche das Haus der Lebenschance. Morgens betritt Jennifer meist als Erste das evangelische Waldheim Altenberg im Stuttgarter Süden, abends verlässt sie als Letzte das weiße Flachdachgebäude in Halbhöhenlage, verborgen hinter Ahornbäumen und Hagebuttensträuchern.

Den Anschluss im Leben verpasst


Eine Enklave in der Welt der Wohlhabenden, umringt von prachtvollen Villen mit ausladenden Terrassen. Diesen Ort haben sich die Evangelische Gesellschaft Stuttgart und der Johanniterorden für das spendenfinanzierte Projekt ausgewählt. Das Ziel: alle Teilnehmer sollen den Hauptschulabschluss erreichen.

Die fünf Jungs und die sieben Mädchen sind dort, weil sie bisher den Anschluss im Leben verpasst haben. Einige haben lediglich ein Förderschulzeugnis in der Tasche, viele haben gar keinen Abschluss. Es geht ihnen so wie 60.000 anderen Menschen in ganz Deutschland, die jedes Jahr die Schulen ohne zählbare Ergebnisse verlassen. In Baden-Württemberg haben im vergangenen Jahr etwa 7000 Jugendliche die öffentlichen Schulen ohne Abschluss abgebrochen. In Nordrhein-Westfalen, wo auch Jennifer vor einigen Jahren in der Statistik auftauchte, waren es doppelt so viele.

Im Herbst 2004 gerät ihr Leben aus den Fugen. Jennifer lebt in Bergheim bei Köln. An einem Nachmittag im Oktober kommt sie vom Unterricht nach Hause und geht zum Kühlschrank, um sich ein Brot zu schmieren. In der Küche fängt ihre Mutter sie ab und zeigt auf den gepackten Koffer. Jennifer ist gerade einmal 14, als sie zu Hause rausfliegt. Viel Streit hat es zwischen ihr und ihrer Mutter gegeben. Zu viel Streit.

Beratung in allen Lebensfragen


Jennifer kommt ins Kinderheim. Sie schwänzt die Schule, kommt mit dem Alltag im Heim nicht zurecht. Sie zieht für kurze Zeit erneut bei ihren Eltern ein. Bis sie eines Nachts aufwacht und abhaut, ohne Kleidung oder etwas zu Essen einzupacken. Sie lebt fortan auf der Straße, schläft unter Brücken, manchmal übernachtet sie bei Freunden. Wenn Jennifer keinen Platz zum Schlafen findet, nimmt sie Drogen, meist Speed, um sich wach zu halten. Im Winter trinkt sie Wodka und Tequila, um sich aufzuwärmen. Essen klaut sie im Supermarkt.

Sie wird erwischt und für ihre Taten verurteilt, zwei Jahre auf Bewährung. An diesem Punkt weiß Jennifer, dass es so nicht weitergehen kann. Sie zieht nach Stuttgart, mit dem Ziel, von vorne anzufangen, und bewirbt sich beim Haus der Lebenschance. "Irgendwann musste es ja mal Klick machen", sagt Jennifer heute.

Maria Süßenguth ist eine von zwei Pädagoginnen, die das Projekt seit April dieses Jahres betreuen. Die zierliche Frau mit den dunkelblonden Haaren berät die Teilnehmer in allen Lebensfragen, organisiert Ausflüge, engagiert Gastdozenten, bespricht Sorgen und Probleme mit den Schülern. Denn nicht nur Mathematik und Deutsch stehen auf dem Plan.

Wer zu oft fehlt, fliegt raus


Die Pädagogen legen viel Wert darauf, bei den Jungs und Mädchen das Interesse für Hobbys zu wecken. Die 32-jährige Sozialpädagogin baut Pfeil und Bogen mit den Schülern, kocht mit ihnen mittags gemeinsam, schickt sie auf den Sportplatz direkt vor dem Haus und engagiert Fotografen für Shootings.