Ein Kind ist behindert, ein anderes hat einen Hirntumor, die Mutter ist für drei Monate krank geschrieben. Die Krankenkasse gewährt aber nur Haushaltshilfe für zehn Tage im Jahr. Erst eine Selbstanzeige beim Jugendamt bringt die Wende.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart/Esslingen - Regina Werner (Name geändert) hätte nie gedacht, dass sie ein Fall fürs Jugendamt werden würde. Aber am 19. Oktober hat sie sich selbst wegen Kindesvernachlässigung angezeigt. Dazu getrieben habe sie ihre Krankenkasse, der sie „Gesundheitspolitik der familienfeindlichsten Sorte“ vorwirft. Die KKH sei über Monate nicht willens gewesen zu helfen.

 

Regina Werner ist in einer Situation, in der sie sich eigentlich zweiteilen müsste: Die Familie hat vier Kinder, das jüngste ist sieben Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Beim ältesten Sohn, er ist kürzlich 18 geworden, wurde im April ein sehr seltener Gehirntumor entdeckt. Zehn Mal ist er seither operiert worden, momentan bekommt er Chemotherapie. Er ist erblindet und halbseitig gelähmt. Wenn er nicht im Olgahospital liegt, ist er in einer Reha-Einrichtung knapp 170 Kilometer entfernt von seinem Zuhause. Weil sein Immunsystem anfällig ist, liegt er dort isoliert auf dem Zimmer. Mindestens ein halbes Jahr noch dauert die Therapie. So lange bleibt die Zerreißprobe für die Familie bestehen.

Olgahospital setzt sich für die Familie ein

„Ich kann ihn da doch nicht alleine lassen“, sagt Regina Werner bei einem ersten Treffen vor rund zwei Wochen. Sie hat einen Wäschekorb voll mit Krankenakten und Unterlagen vor sich stehen. Darunter der Ausdruck einer E-Mail vom 16. Oktober vom Olgahospital an die KKH, in der steht, dass es „aus medizinischer Sicht unbedingt erforderlich“ sei, dass die Mutter ihren Sohn in der Rehabilitationseinrichtung begleitet. „Ich bitte deshalb, die Finanzierung einer Haushaltshilfe zu übernehmen“, schreibt ein Sozialpädagoge der Sozialmedizinischen Nachsorge aus dem Olgäle.

Regina Werner berichtet, dass ihr die Ärzte klar gesagt hätten, dass die psychische Verfassung den weiteren Krankheitsverlauf stark beeinflusse – je stabiler der Patient ist, desto besser schlägt die Therapie an. Ihr Ältester brauche sie, sonst werde er depressiv. Doch was ist mit dem Rest der Familie? Was ist mit ihrem behinderten Kind? Der Siebenjährige kann nachmittags nicht alleine sein – mit in die Rehaeinrichtung kann sie ihn auch nicht nehmen.

Das Gehalt des Vaters wird dringend benötigt

Das Kurzzeit- und Verhinderungspflegegeld, auf das die Familie Anspruch hat, reichte gerade mal für den Monat Juni, in dem die größten Operationen anstanden. Damals ging Regina Werners Kampf los. „Ich suche seit Monaten Hilfe, um den Kindern irgendwie gerecht zu werden“, sagt sie. Die mittleren Kinder, sie sind 13 und 16, belaste die Situation natürlich auch.

Es besteht aber nur dann ein gesetzlicher Anspruch auf Haushaltshilfe, wenn im Haushalt niemand anderes lebt, der diese Aufgabe übernehmen kann. Und Regina Werner ist verheiratet. Ihr Mann, sagt sie, könne nicht dauerhaft über Monate alles auffangen, sonst setze er den Job aufs Spiel, von dem die Familie lebt. Sie selbst arbeitet seit April nicht mehr. Ihr Mann habe eine Führungsaufgabe, da werde Präsenz erwartet. Abgesehen davon, die finanziellen Belastungen sind für sie gewachsen: Allein die Ferienwohnung bei der Reha-Einrichtung kostet 1000 Euro im Monat.

Für 5,25 Euro die Stunde findet die Mutter niemanden

Kopfschüttelnd zeigt sie bei dem Treffen vor zwei Wochen einen Brief vom 1. Oktober 2015 der KKH: „Es ist unbestritten, dass Sie aufgrund von Ihren persönlichen Umständen Haushaltshilfe benötigen. Jedoch können wir die eventuellen Kosten der Haushaltshilfe (. . .) nicht übernehmen, da Sie als betreuende Person nicht selbst erkrankt sind und deshalb den Haushalt nicht führen können“, steht da.

Der nächste Brief, den sie hervorholt, ist vom 19. Oktober. Weil sie nachts vor Sorgen kaum noch schläft und Körper und Psyche nicht mehr können, hat sie ihr Arzt vom 15. Oktober bis zum 10. Januar krankgeschrieben. Diesmal teilt die KKH ihr mit, dass eine Haushaltshilfe höchstens für zehn Tage im Jahr bewilligt werde. In ihrem Fall vom 19. bis 30. Oktober für vier Stunden täglich. Für 5,25 Euro die Stunde, so die Info, könne sie jemanden beauftragen. Regina Werner ist empört, dass ihr nur zugestanden werde, zehn Tage im Jahr krank zu sein. So kurzfristig sei das zudem nicht zu organisieren, für 5,25 Euro erst recht nicht. Unter 27,50 Euro die Stunde übernehme keine Sozialstation den Auftrag. Ein Rat, an welche Stelle sich die Familie alternativ wenden könnte, fehlt in dem Schreiben.

5,25 Euro die Stunde als „Dankeschön“

Bei der KKH verteidigt man die Haushaltshilferegelung gegenüber der StZ. Die Leistung sei zur Genesung als Überbrückung gedacht, zum Beispiel nach einem Krankenhausaufenthalt, so ein Sprecher. Sie werde oft von Nachbarn übernommen. Die 5,25 Euro seien als „Dankeschön“ zu verstehen. Wie dramatisch die Lage in der Familie Werner ist, sei im eigenen Haus in dem Maße sicher nicht bekannt gewesen, sagt er (die Mutter hatte aber den Antrag ausführlich begründet). Man biete der Familie nun eine „individuelle Pflegeberatung“ mit einer festen Ansprechpartnerin an, so der Sprecher. Die klassische Haushaltshilfe sei in diesem Fall nicht die richtige Lösung, meint er.

Zurück zum 19. Oktober: Regina Werner sieht keinen Ausweg. Sie wählt die Nummer des Kreisjugendamts Esslingen und zeigt die Vernachlässigung ihrer Kinder an. Sie spricht nach eigenen Angaben Selbstmordgedanken aus – wie klar, lässt sich nicht nachvollziehen. Selbstmordgedanken finden sich laut dem Landratsamt nicht in der Akte. Bei Suizidgefahr werde unverzüglich reagiert, so der Sprecher Peter Keck. Was aber nach StZ-Informationen in der Akte festgehalten worden ist, ist, dass dringender Hilfebedarf besteht und die Mutter ganz auszufallen droht.

Für drei Monate wird Familienhilfe finanziert

Nach rund einem Monat, am 23. November, trifft das Amt seine Entscheidung. Das klingt spät, laut Keck sei es aber recht zügig gegangen. Man habe vieles prüfen müssen, es bestanden Zweifel an der Zuständigkeit. „Eigentlich zahlt die Krankenkasse“, erklärt er. So musste ein Nachweis eingeholt werden, dass diese die Leistung nicht finanziert. Auch hätten Erkundigungen eingezogen werden müssen, ob der Vater einspringen kann. Seit Montag ist nun klar, dass der Familie geholfen wird: Das Landratsamt gewährt als Familienhilfe eine Haushaltshilfe für 15 Stunden in der Woche. Finanziert wird diese seit Donnerstag für drei Monate. An allen Werktagen ist die Betreuung des Jüngsten abgedeckt – drei Tage finanziert über das Landratsamt, zwei über die Pflegekasse. Dass sie hier Ansprüche hat, hat die Familie erst vor Kurzem erfahren. „Mir fällt ein Riesenstein vom Herzen“, sagt Regina Werner, „diesen Kampf packt nicht jeder.“