Wo lebt man in der Landeshauptstadt wirklich? Viele Alteingesessene wohnen zuerst im Stadtbezirk und dann in Stuttgart. Unsere Serie spürt dem Lebensgefühl nach.

Stuttgart-Vaihingen – Vaihingen hat eine lange Geschichte. Nicht, dass andere Stadtteile dies nicht auch von sich behaupten könnten. Warum der Lokalbezug so wichtig ist, erklärt der Vaihinger Ortschronist Gerhard Widmaier, Spross der alteingesessenen Brauerei-Dynastie Widmaier.
Herr Widmaier, sind Sie Vaihinger oder sind Sie Stuttgarter?
Vaihinger, natürlich! Also gut, wenn ich im Ausland bin, dann sage ich schon Stuttgart-Vaihingen.

Dabei sind Sie bereits als Stuttgarter geboren. 1944 kamen Sie auf die Welt, zwei Jahre zuvor war Vaihingen bereits von Stuttgart eingemeindet worden. Als Messebauer sind Sie später viel in der Welt herumgekommen. Warum dennoch diese enge Beziehung zum Heimatort?
Weil Vaihingen einfach meine Heimat ist, weil ich ein heimatverbundener Mensch bin und unsere Familie seit über 130 Jahren hier lebt.

Gilt das auch für die jungen Vaihinger? Wie fühlen Ihre Enkelinnen?
Auch sie sind Vaihingerinnen. Wir haben in der Familie überlegt, auf welche Schule wir sie schicken. Und dann haben wir uns bewusst für das Fanny-Leicht-Gymnasium entschieden. Weil’s gut ist, weil’s nah ist und weil es eben in Vaihingen ist und es ist ja auch ihre Heimat – sie leben hier schon als sechste Generation.

Woher dieser Heimatstolz?
Vaihingen hat eine lange Geschichte. Es ist seit der Jungsteinzeit besiedelt. Schon 2000 vor Christus lebten hier die Kelten. 200 Jahre nach Christus kamen die Alemannen. Unter einem Heeresführer Fugo entstand entlang des Nesenbachs die Siedlung Fügingen oder Vögingen. Es war die erste alemannische Siedlung im Filderbereich. 1100 wurde Vaihingen das erste Mal urkundlich erwähnt.

Man darf bezweifeln, dass jeder Vaihinger, stets den Geschichtsverlauf ausgehend von der Jungsteinzeit im Kopf hat.
Wichtiger für das Vaihinger Bewusstsein ist sicherlich die jüngere Vergangenheit. Bis 1876 war Vaihingen ein armes Bauerndorf. Häuser gab es nur nördlich der Hauptstraße und um die 750 Jahre alte evangelische Stadtkirche, in der Umgebung waren Felder und Wiesen. Dann wurden die Brauereien gegründet, 1876 von Ferdinand Adolf Widmaier, direkt daneben die zweite 1878 von Robert Leicht, der heiratete Fanny Widmaier, Tochter von Carl Widmaier aus Möhringen. Dann ging es, auch durch die Trikotagenfabrik Vollmoeller und das Feuerziegelwerk Ruppmann, mit dem Wachstum richtig los.

Kein Anlass für ein Vaihinger Sonderbewusstsein. Den eben besagter Carl Widmaier, Vater von Fanny Leicht, hatte im Nachbardorf Möhringen bereits seit 1846 eine Brauerei.
Das stimmt. Aber die Vaihinger Brauereien und die beginnende weitere Industrieansiedlung waren für die Vaihinger am Ort sehr wichtige Arbeitsstätten. Und 1878 kam der Anschluss Vaihingens an die Gäubahn. Damit entstanden noch mehr Fabriken, die Leute aus den umliegenden Bauerndörfern kamen auch zum Arbeiten hierher, viele siedelten sich an. Vaihingen wuchs stärker als die umliegenden Dörfer und in den Brauereien und Fabriken arbeiteten Generationen von Familien.

In den Neckarvororten ist der Daimler. Dort arbeiten auch ganze Familiengenerationen. Auch das begründet noch kein Vaihinger Sonderbewusstsein.
Aber so eine Großfirma ist was anderes als eine Brauerei oder kleinere Fabrik. Hier bei uns haben so viele Frauen und Männer im gleichen Betrieb gearbeitet, man hat sich noch gekannt. Und Brauereibesitzer Robert Leicht war „Vater Leicht“, der kannte seine Leute. Auch in den Industriebetrieben kannten sich die Chefs und die Arbeiter – es war einfach alles familiärer. Das erhöht die Identifikation weiter. Alle Bürger kauften auch in gleichen Geschäften ein, trafen sich und redeten miteinander.

Das mag für die Mitarbeiter der Brauerei gegolten haben . . .
. . . fast alle Vaihinger haben damals in den Brauereien und den Fabriken gearbeitet.

Seit zehn Jahren ist die Brauerei weg.
Ich kann da glaube ich für viele Vaihinger sprechen, wenn ich sage, dass ich mir die aktuelle Gestaltung der Hauptstraße mit der Schwabengalerie und dem Mercedes-Business-Center etwas anders gewünscht hätte: weniger Beton, weniger gerade Linien und weniger flache Dächer. Schön wäre es auch gewesen, wenn das alte Gasthaus „Ochsen“ erhalten geblieben wäre. Es gab ja Entwürfe, in denen das vorgesehen war. Aber das zentral gelegene Einkaufszentrum, nicht zu bauen, das wäre auch nicht gegangen, es ist gut für die vielen Bürger hier zur umfassenden Nahversorgung, sonst müssten die Leute nach Stuttgart oder in die Umgebung zum Einkaufen gehen. Vaihingen hat immerhin mehr als 45 000 Einwohner.

Gehört eigentlich die im Pfaffenwald angesiedelte Universität zu Vaihingen?
In jedem Fall. Es ist toll, dass wir sie hier haben und damit ein ganz besonderes Zentrum von Wissenschaft, Forschung, Hochschulen und Bildungseinrichtungen.

Gretchenfrage: Was macht Vaihingen für einen Vaihinger aus – eher Schwabenbräu und Leicht oder die Uni?
Für einen alten Vaihinger vermutlich eher die Brauereien, Vaihinger Fruchtsaft und die alten Industriebetriebe.

Die Nachbar-Stadtteile Degerloch und Möhringen haben noch einen alten Ortskern. In Vaihingen gibt es praktisch nur noch das Bezirksrathaus und die Alte Kelter. Ist Vaihingen schön?
Ja, das würde ich schon so sagen. Es stimmt zwar, dass im Zweiten Weltkrieg sehr viel zerstört worden ist. Die Bombenangriffe von 1942/1943 waren verheerend. Es stimmt auch, dass in der Ortsmitte in den vergangenen Jahren einige Gebäude entstanden sind, die ich nicht alle für so besonders gelungen halte. Aber es gibt auch viele weitere alte Gebäude in Vaihingen, die erhalten und mit viel Liebe restauriert wurden, etwa das alte Schulhaus an der Ernst-Kachel-Straße und auch etliche neue Gebäude wurden architektonisch gut angepasst. Es gibt das alte Vaihingen also noch.

Wollte Vaihingen jemals gegen Stuttgart unten im Talkessel anstinken?
Nein. Man wusste immer: Für das, was man in Vaihingen nicht bekam, fuhr man eben nach Stuttgart runter. Aber es gibt noch die Vaihinger, die sagen: Was da alles in den Kessel runter fließt. Immerhin haben wir in Vaihingen ein sehr großes Industriegebiet. Wenn wir eine eigene Stadt wären, das war ja 1938 beantragt, dann hätten wir die Gewerbesteuereinnahmen – dann wäre vielleicht manches anders.