Drei Jahre nach dem Start gerät der Hilfsfonds für die Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch in Familien in große Nöte – die Finanzierung ist fraglich, weil nur der Bund und zwei Länder einzahlen. Das baden-württembergische Sozialministerium wehrt sich gegen die Kritik.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der Beauftragte der Bundesregierung für sexuellen Missbrauch im familiären Bereich, Johannes-Wilhelm Rörig, schlägt Alarm: 50 Millionen Euro hat der Bund für den vor drei Jahren eingerichteten Fonds bereit gestellt. Hinzu kamen acht Millionen aus Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Bisher wurden von Hilfebedürftigen insgesamt 6000 Anträge gestellt, 2000 von diesen sind bewilligt. Da pro Fall mit bis zu 10 000 Euro gerechnet werde, sei das Geld bald weg.

 

Rörig beklagt ein mangelndes Problembewusstsein der Politik. Die Länder hätten genauso eine Verantwortung wie der Bund – auch in staatlichen Einrichtungen wie Schulen oder Kitas habe es Missbrauch gegeben. „Und der fand statt, weil wir in der Vergangenheit bagatellisiert und zu wenig Prävention gemacht haben“, sagt seine Sprecherin Friederike Beck. „Das liegt für uns auch ganz klar bei den Ländern – doch die drücken sich weg.“

Antragsfrist auf unbestimmte Zeit verlängert

Nachdem die Antragsfrist ursprünglich Ende April auslaufen sollte, hatten sich in den vergangenen Monaten viele Antragsteller auch auf Drängen der Beratungsstellen noch zum Handeln entschlossen. Dann verkündete der Staatssekretär des Bundesfamilienministeriums Mitte März, dass der Fonds zunächst auf unbefristete Zeit verlängert werde. Beide Faktoren ließen die Zahl der Anträge von anfangs 50 auf aktuell 1000 pro Monat hochgehen. Und noch immer wissen viele Betroffene und Beratungsstellen bis heute gar nicht, dass es dieses Angebot gibt. Insgesamt 100 Millionen Euro von Bund und Ländern hatte die Bundesregierung zu Beginn versprochen. Bleibt das Gros nun beim Bund hängen? Niemand könne sich wegducken, wenn das Antragsvolumen hoch gehe, mahnt Beck.

Sozialministerium in Stuttgart weist die Kritik zurück

Die Länder hingegen sehen die Finanzierungsverantwortung klar beim Bund. Ihre Abwehrhaltung hatten sie schon in einer Fußnote des Abschlussberichts zum Runden Tisch im November 2011 festgehalten. Demnach weigerten sie sich von vorneherein, in den Fonds einzuzahlen, um kein Überbrückungssystem zu etablieren. Stattdessen fordern sie Reformen bei den Regelsystemen: dem Opferentschädigungsgesetz und den gesetzlichen Krankenversicherungen. Das Problem: ein neues Entschädigungsgesetz lässt seit fünf Jahren auf sich warten. „Wenn den Ländern die Reform wichtig wäre, könnten sie auch mal Vorstöße machen“, moniert Beck.

Das baden-württembergische Sozialministerium kontert die Kritik: Der 2013 durch den Bund eingerichtete Fonds sei „mit heißer Nadel gestrickt“ worden – wesentliche Fragen seien bei seiner Einrichtung offen geblieben. Dass Baden-Württemberg mit dieser Ansicht nicht alleine dastehe, zeige sich daran, dass sich dem Fonds bislang lediglich zwei Bundesländer angeschlossen hätten. „Der neuen Landesregierung ist es ein wichtiges Anliegen, die Betroffenen zu unterstützen“, sagte eine Sprecherin. Man werde deshalb „sorgfältig und ergebnisoffen prüfen“, wie dies möglich ist.

Zehn Millionen für Opfer in Landeseinrichtungen

Ganz untätig war die grün-rote Regierung ohnehin nicht. Baden-Württemberg war im Juli 2015 als eines der ersten Bundesländer dem „ergänzenden Hilfesystem“ für Fälle sexuellen Kindermissbrauchs in Institutionen beigetreten. Dabei geht es um Taten in Einrichtungen des Landes, die von dessen Bediensteten begangen wurden – sei es in Schulen, Kitas, Justizvollzugsanstalten oder (psychiatrischen) Kliniken. Zehn Millionen Euro wurden dafür bereitgestellt. Das Geld soll Betroffenen etwa psychotherapeutische Hilfen, Betreuungsangebote oder die Beschaffung von Heilmitteln erleichtern, wenn etwa die Krankenkasse, die Rentenversicherung oder das Jobcenter die Leistung nicht (mehr) finanzieren. Noch bis Ende August 2016 können sie einen Antrag stellen. Die Anträge sollen bis Ende 2017 abgearbeitet werden, so die Ministeriumssprecherin.

Das für die Bearbeitung zuständige Regierungspräsidium Stuttgart hat von der Geschäftsstelle des Hilfesystems bisher fünf Anträge erhalten. Davon fielen vier nicht in die Arbeitgeberverantwortung des Landes, sondern der Kommunen, die aber nicht eingebunden sind – sie wurden an die Geschäftsstelle zurückgesandt. Der fünfte Antrag befinde sich derzeit in Bearbeitung. Der Bundesbeauftragte kritisiert allerdings das „sehr intransparente“ Verfahren. Dies sei eine „zusätzliche Hürde“, Anträge zu stellen, betont Friederike Beck.

Jedes achte bis zehnte Kind wird missbraucht

Jährlich registriert die Kriminalpolizei relativ konstant um die 12 500 Strafanzeigen. „Doch das Dunkelfeld ist riesig“, sagt sie. „Wir gehen in Deutschland von einer Million Menschen aus, die in ihrer Kindheit Missbrauch erlitten haben.“ Jeder achte bis zehnte junge Mensch bis zu 18 Jahren werde missbraucht.